Erstellt am: 23. 5. 2012 - 21:39 Uhr
EM-Journal '12-02.
Das EM-Journal 2012 begleitet täglich die Euro in Polen und der Ukraine, ähnlich wie schon das WM-Journal '10 beim letzten Großereignis.
Heute: ein genauerer Blick auf das erste der 16 teilnehmenden Teams.
1. England.
Das alles im Rahmen des heurigen Fußball-Journal '12, welches sich - wie schon 2011 - mit den aktuellen Unwägbarkeiten dieses besten aller nicht lebenserhaltenden Systeme beschäftigt.
Siehe auch: Afrika-Cup-Journal '12 . Upcoming, im August: ein Journal zu dem London-Olympics.
FM4 hat auch diesmal wieder ein EM-Quartier im Wiener WUK, mit Public Viewing, Moderation und netten Gästen.
England ist für den Fußball wie Griechenland für Olympia, sagt man; sagen vor allem die Engländer, die neuzeitlichen Erfinder dieser Sportart. Dass ich heute das englische Team als erstes drannehmen will, hat aber weniger damit zu tun, auch nicht damit dass ich die Noch-Nie-Europameister gestern zum logischen Gewinner erklärt habe, sondern liegt in der Tatsache begründet, dass Roy Hodgson, der Manager, sein Aufgebot recht früh bekannt gegeben hat; und auch weil die Mannschaft, egal wie sie in den nächsten Tagen noch testspielt, als eines der großen Fragezeichen ins Turnier gehen wird.
Das wiederum hat erstens mit dem kurzfristigen Abgang von Fabio Capello zu tun, der im Februar nach der kontroversen Terry/Ferdinand-Entscheidung der FA verärgert zurückzog, nachdem er die Engländer seit 2007 betreute, als zweiter Nicht-Brite nach Sven-Göran Eriksson.
Hodgson übernahm also kurzfristig, und gegen popular demand - die Medienmeute hätte den lauten Harry Redknapp vorgezogen ("Reflecting, reading and not being Redknapp: Hodgson is under fire over the three Rs" Zitat Mirror), der über eine peinliche Steueraffäre stolperte. Der ebenso bereitstehende langjährige Assistent Stuart "Psycho" Pearce wurde mit der Aufgabe, das britische Team für Olympia zu coachen betraut. Roy Hodgson (der Gary Neville als Assistenten für die Euro holte) ist ein Verfechter eines strikten 4-4-2, mit dem er in Skandinavien, der Schweiz (einmal auch fast in Österreich, der fußballferne damalige Liga-Präsident Stronach verhinderte das, und holte stattdessen Krankl) in Italien, bei Fulham (incl. Europacup-Finale), Liverpool und zuletzt WestBrom (als Chef von Paul Scharner) überdurchschnittlich gute Erfolge hatte.
Das ist insofern von Bedeutung, weil das klassische englische Spiel der letzten Jahre, ein auf Wayne Rooney zugeschnittenes 4-4-1-1, mit The Roon in einer Sonderrolle als hängender Spitze bei der Euro zumindest zwei Spiele nicht zum Tragen kommen wird: Rooney handelte sich im letzten Quali-Spiel eine recht überflüssige Sperre ein und wird gegen Frankreich und Schweden fehlen.
Wie wird das England-ohne-Rooney-System aussehen?
Der EM-Kader von Roy Hodgson:
Tor: 1 Joe Hart (Man-chester City), 13 Robert Green (WestHam), für den verletzten John Ruddy (Norwich) wurde 23 Jack Butland (Birmingham) nachnominiert.
Abwehr: 2 Glen Johnson (Liverpool), 15 Joleon Lescott (Manchester City), 6 John Terry, 3 Ashley Cole (Chelsea), 14 Phil Jones (Manchester United), 12 Leighton Baines (Everton). Nachgerückt sind 5 Martin Kelly (Liverpool) und 18 Phil Jagielka (Everton).
Mittelfeld: 17 Scott Parker (Tottenham), 4 Steven Gerrard, 19 Stewart Downing (Liverpool), 16 James Milner (Manchester City), 7 Theo Walcott, 22 Alex Oxlade-Chamberlain (Arsenal), 11 Ashley Young (Manchester United).
Nachgerückt ist 8 Jordan Henderson (Liverpool).
Angriff: 10 Wayne Rooney, 22 Danny Welbeck (Manchester United), 21 Jermain Defoe (Totten-ham), 9 Andy Carroll (Liverpool).
Wegen einer Verletzung im Testspiel in Norwegen musste Gareth Barry (Man City) aus dem Kader entlassen werden. Dann fällt auch noch kurzfristig Frank Lampard (Chelsea) aus. Und schließlich auch noch Gary Cahill (Chelsea) und Ersatztormann John Ruddy (Norwich).
Auf Abruf: Adam Johnson (Manchester City), Daniel Sturridge (Chelsea).
Die Experten vermuten deshalb ein 4-3-3 der italienisch anmutenden Sorte mit dreien aus dem Parker/Gerrard/Lampard/Barry-Angebot im vorsichtig ausgerichteten Mittelfeld, zwei offensiveren Flügeln (Ashley Young wäre in guter Form) und einer echten Spitze. Wer die sein soll, ist in Teil-Abwesenheit von Rooney und nach der Verletzung von Darren Bent aber ein bisserl die Frage: Andy Carroll? Jermain Defoe? Oder doch der junge Danny Welbeck? Daniel Sturridge ist nur als Stand-By nominiert, die alten Kerle (Heskey, Crouch) sind kein Thema mehr.
Hier hat England vor allem deswegen ein Problem, weil die Premier League auf die besten Stürmer weltweit zurückgreifen kann und so die Produktion eigener Nachwuchs-Talente nicht unbedingt befördert.
Die Abwehr hinter Joe Hart, der sich bei Man City durchgesetzt hat und somit der erste englische Keeper seit (gefühlt) David Seaman ist, der eine echte Nummer 1 sein könnte, stellt sich durch die FA-Entscheidung pro Terry und contra Ferdinand-Bros auch von selber auf (Terry soll Anton rassistisch beschimpft haben, Bruder Rio, der Nationalspieler, forcierte die Klärung der Sache). Wahrscheinlich wäre es klüger gewesen auf beide Altstars zu verzichten: Ferdinand war im Frühjahr kaum im Spiel, Terry hat sich zunehmend weniger unter Kontrolle. Über eine Jungens-Abwehrzentrale Cahill-Jones traut sich Hodgson wohl (noch) nicht drüber, es wird auf Terry-Lescott rauslaufen. Links wird Ashley Cole verteidigen, rechts wohl Glen Johnson.
Das klingt alles nach einigermaßen Baustellen-Betrieb. Zonal Marking-Chef Michael Cox etwa meinte sarkastisch, dass er keine Anzeichen sehe, ob Hodgson überhaupt über ein Rezept verfüge, das über die altbackenen Versuche der letzten Jahre und über eigentlich überlebte Fragen (passen Lampard und Gerrard zusammen?) hinausgeht.
Vielleicht ist aber gerade das die Chance dieser Mannschaft: dass die Unruhe durch das Fehlen von Rooney, den Wickel der Abwehr-Oldies und die neuen Maßnahmen von Hodgson eine neue Hierarchie entstehen lassen.
Das Parker/Gerrard/Lampard/Barry-Package (allesamit 31-33) bekommt Druck von den jüngeren Jahrgängen: mit Hart, Cahill, Baines, Milner und Ashley Young sind fünf vom U21-Team von 2007 dabei; Dazu noch Carroll, Walcott, Welbeck, Jones und das überraschend einberufene Bürschchen Alex Oxford-Chamberlain - diese Generation müsste das Spiel an sich reißen.
Nachtrag von Ende Mai
Nachdem am 31.5. nach Gareth Barry mit Frank Lampard auch der zweite der vier zentralen Mittelfeldspieler ausfällt, bleibt nur noch die Achse Parker-Gerrard übrig. Das könnte dazu führen, dass sich Hodgson doch über ein etwas wagemutigeres System drübertraut. Zumindest ist die superdefensive Variante mit zwei Sechsern (Lampard-Parker) und dem scheinoffensiven Gerrard als verkapptem Zehner davor vom Tisch. Der scheinbare Notfall kann sich also als Glücksfall erweisen.
Dass dann Anfang Juni auch noch Gary Cahill ausfällt, hat schon etwas von einer Pech-Strähne.
Wer fehlt?
Neben Rio Ferdinand musterte Hodgson auch den formschwachen Michael Carrick sowie Aaron Lennon aus und er kam auch nicht in Versuchung Paul Scholes zu reaktivieren. Chris Smalling, Darren Bent, Jack Wilshere und Jermaine Jenas sind verletzt. Die wenigen Legionäre (Joe Cole bei Lille und auch Tormann Scott Carson bei Bursa) kamen ebensowenig in Frage wie der galaktische David Beckham - der wird wohl beim Olympia-Turnier seine tragende Rolle bekommen.
Weiters reinreklamiert: Kyle Walker von Tottenham, eventuell Jack Rodwell. Christian aus K. wünscht sich für 2014 dann Hart - Walker/Smalling, Cahill, Jones, Baines - Cleverly, Wilshere - Young, Chamberlain - Rooney, Welbeck.
Ich vermisse Micah Richards, Bobby Zamora oder Tom Cleverly. Vom letzten WM-Aufgebot haben es auch Jamie Carragher, Michael Dawson, Shaun Wright-Phillips, Matthew Upson, Stephen Warnock und Ledley King nicht geschafft. Michael Owen wird wohl Sportinvalide.
Mancherorts wurden auch Tormann David Stockdale von Fulham, Kieran Gibbs von Arsenal, Leon Britton von Swansea, Fraizer Campbell von Sunderland oder Grant Holt von Norwich genannt.
Allerdings hat sich keiner, der nicht unter den letzten 23 steht, wirklich aufgedrängt, nicht einmal Sturridge. Schade, dass Phil Jagielka jetzt doch nicht dabei ist: der Abwehrspieler ist auch ein sehr guter Tormann, eigentlich der optimale dritte Keeper für so ein Turnier.
Nachreichung vom 27. Mai. Jagielka ist der erste Nachrücker - er ersetzt den kurzfristig verletzten Garteh Barry.
Was steht zu erwarten?
England ist, trotz der weißen Shirts, ein echtes dark horse: was sie, rooneylos und neugehodgsont, in den ersten beiden Spielen hinstellen, ist durchaus unvorhersehbar.
Bleibt noch der Hinweis, dass ich alle UserInnen ersuche mich doch auf ihnen allfällig fehlende Namen und Taten hinzuweisen; entweder im Forum oder per Mail (martin.blumenau@orf.at) - ich habe sicher den einen oder anderen Martin Kelly übersehen.
Und hoppla, am 3. Juni schafft der es dann sogar noch ins Aufgebot!
Die meisten Spieler der Spitzenteams haben Grund zu guter Laune: Chelsea ist CL-Champ, ManCity Meister, ManU hat sich gut verkauft, Arsenal und Liverpool haben grottige Saisonen gerade noch gerettet, man hat es der Primera Division im letzten Moment noch gezeigt.
Die Qualifikation war vergleichsweise ein Spaziergang, der Test gegen Spanien lief gut, beim Test gegen die Niederlande sah man (vor allem in Anbetracht der im Februar akuten Querelen) auch nicht so schlecht aus.
Die Mannschaft braucht bei diesem Turnier aber eindeutig Akteure, die über sich und ihre Saisonform hinauswachsen und das Heft des Handelns in die Hand nehmen, Shooting Stars. Dann ist viel möglich - andernfalls aber auch ein vierter Gruppenplatz.
Ein nachträgliches PS nach den Ausfällen von Barry, Lampard und auch Cahill: die Tatsache dass die allesamt nicht adäquat ersetzt werden können, senkt die Erwartungen um ein paar, vielleicht entscheidende Prozente.
Nach der absurden Nachnominierung des No-Names Martin Kelly twitterte Rio Ferdiand ein verzweifeltes "What reasons????!!!"