Erstellt am: 23. 5. 2012 - 13:34 Uhr
Selena geht's gut
Ivan wurde Dienstagnacht gegen drei Uhr von einem heftigen Schütteln aufgeweckt. Er wohnt im elften Stock eines Plattenbausarges in einem der unfreundlichsten Viertel Sofias, das komischerweise den Namen „Freundschaft 2“ trägt. „Mein Block hat wie Wackelpudding gewackelt“, erzählt mir Ivan via Skype „Im 11. Stock fühlte ich mich wie auf einer Yacht.“ Danach macht Ivan eine kurze Pause. „Okay, ich war noch nie auf einer Yacht, ich habe es mir aber immer vorgestellt, dass es genauso wackelt.“
In dieser Dienstagnacht wurde Sofia vom heftigsten Erdbeben seit 1917 erschüttert. Nach verschiedenen Angaben betrug die Stärke des Erdbebens zwischen 5,5 und 5,9 auf der Richterskala. Tausende Menschen verbrachten die Nacht auf der Straße. Das Erdbebens war fast so stark wie das in Italien letzte Woche. Das Epizentrum lag in der Kohlenarbeiterstadt Pernik, nur ungefähr zwanzig Kilometer von der Hauptstadt entfernt.
Die Plattenbauten erwiesen sich aber als stärker als erwartet: Es gibt zwar viele Schäden an den Häusern, aber bisher keine Hinweise auf Todesopfer. Am nächsten Tag folgten noch mehrere schwächere Nachbeben.
Der Schock war groß, trotzdem verloren die Bulgaren aber nicht ihren Humor. Facebook wurde von lustigen Kommentaren über das Erdbeben überflutet: „Eine Massenschlägerei in einer Disko in Pernik hat man in Sofia gespürt“, scherzt einer meiner Landsleute über die in Bulgarien weitbekannten rauen Manieren der Bewohner von Pernik. Oder: „In Pernik hat man mit Schaufeln und Hämmern nach Richter gesucht.“
selenagomez.com
Am aktivsten in den Sozialen Netzwerken sind aber die Fans des Teenie-Stars Selena Gomez, von deren Existenz ich bis gestern nichts gewusst habe (jetzt weiß ich aber alles). Die Freundin von Justin Bieber und das Idol aller 12-Jährigen Mädchen auf der Welt, dreht momentan in Sofia zusammen mit Ethan Hawke einen Film. Nachdem Fans erfahren haben, dass Sofia von einem Erdbeben erschüttert wurde, wurden die Facebook- und Twitter-Gruppen „Pray for Selena“ gegründet: Dort machen sich jetzt Millionen Menschen auf der ganzen Welt Sorgen um das 19-jährige Starlet.
Ich habe mich bisher nie für Selena interessiert, aber der Weltkummer über ihre Gesundheit erreichte meine Seele. Wie sich das arme Mädchen wohl am Ende der Welt in Bulgarien fühlt, wo die Erde wackelt, der Strom nach dem Beben für eine Weile ausgefallen ist, am Tag danach ein sintflutartiger Regen die Stadt fast überflutete und die Raben so aggressiv wurden, dass sie am nächsten Tag die Menschen wie im Hitchcock-Film attackierten? Vielleicht braucht sie wirklich Hilfe. Ich fragte Ivan, ob er etwas über Selena weiß. Er hat Skype ausgeschaltet. Die sozialen Netzwerke lassen viele neue Freundschaften entstehen, kreieren aber gleichzeitig jede Menge falsches Mitleid.
Ivan, es tut mir leid, Selena geht mir am Arsch vorbei.