Erstellt am: 22. 5. 2012 - 11:28 Uhr
In Regung geraten
Wenn Soap&Skins verhaltene Raserei einsetzt, liegen jahrelang verborgene Sehnsüchte auf der Leinwand offen. "Voyage, voyage" hat die Sängerin und Musikerin Anja Plaschg aka Soap&Skin für den Spielfilm
"Stillleben" auf ihre Weise interpretiert. Die Ferienstimmung des Achtzigerjahre-Hits der Französin Desireless, der aus der fensterlosen Werkstatt im Garten dröhnte, ist verschluckt. Und eine unauffällige österreichische Durchschnittsfamilie wird durch die Entdeckung des Sohnes nie mehr dieselbe sein. Warum bittet der Vater in Füllfederschrift auf kariertem Papier eine jugendliche Prostituierte, sie ausgerechnet mit dem Namen seiner Tochter ansprechen zu dürfen?
Der Spielfilm "Stillleben" ist mit dem Großen Diagonale-Spielfilmpreis ausgezeichnet worden. Zusammen mit der Dokumentation "Outing" lief er kürzlich in den heimischen Kinos an. Somit behandeln gleich zwei Filme das Tabuthema Pädophilie, das außerhalb von Chronikseiten in Tageszeiten nicht vorkommt.
Beide Filme stammen von denselben Filmemachern. Es ist nicht so, dass Sebastian Meise und Thomas Reider diese derart intensive Beschäftigung geplant hätten. Vielmehr hat sich aus der Recherche zum Spielfilm "Stillleben" eine eigenständige Doku, "Outing", entwickelt. Es ist der erste Dokumentarfilm, in dem ein pädophiler Mann ausführlich zu Wort kommt.

Freibeuter Film
Aber warum sollte man sich überhaupt einen Film zum Thema Pädophilie anschauen?

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Der Regisseur Sebastian Meise und der Drehbuchautor Thomas Reider setzen dort an, wo Pädophilie noch im Kopf stattfindet. Und sie führen die Auseinandersetzung mit dem Tabuthema an Grenzen, die niemandem egal sein können. Wie kann und will die Gesellschaft mit Menschen umgehen, die Kinder sexuell begehren? Wie weit will man sich damit konfrontieren? Wo zieht man die eigenen Grenzen und weichen die von der Gesetzeslage ab?
In ruhigen Bildern folgt die Handlung in "Stillleben" dem Moment, als der Sohn (Burgschauspieler Christoph Luser) den Vater (Fritz Hörtenhuber) mit seiner Entdeckung konfrontiert. Sprachlos entzieht sich der Vater der Konfrontation, verschwindet. Auf der Suche nach ihm findet die Tochter Lydia (Daniela Golpashin) päckchenweise Fotos von sich als Kind in einer Schachtel in der Werkstatt des Vaters. Das kleine Mädchen im Meer, nackig bis auf eine Badehose, oder mit einer Zahnlücke in die Kamera lächelnd. Als der Familienvater schließlich seiner Ehefrau mit einem Gewehr gegenübersteht, wendet sie sich von ihm ab.
Dass Anja F. Plaschg aka Soap&Skin auch schauspielt, präsentiert der Trailer zu "Stillleben" ausführlich. Im Spielfilm von Sebastian Meise entblößt sich Plaschg als Prostituierte in einer kurzen Szene. Es ist Plaschgs erste Kinorolle. Voilá, Voyeurismus ist genau das Thema, das der filmische Doppelpack, der Spielfilm "Stillleben" und die Doku "Outing" zu bedienen vermeidet. Und das gelingt den Filmemachern Sebastian Meise und Thomas Reider im Spielfilm gut. Und in ihrer Dokumentation "Outing" fast noch besser.

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Ein Leben ohne gelebte Sexualität
"Wir haben ein Recht auf unsere Persönlichkeit, auf unser persönliches Bild", sagt ein Vater zu seinen herumtollenden Kindern, während die Mutter die anderen Familienmitglieder filmt. Würde sie weiter aufnehmen, müsste sie nachträglich schwarze Balken über die Augen der Gefilmten montieren, erklärt der Vater einem Buben. Mit Archivaufnahmen in einem Kinderzimmer der Achtziger Jahre beginnt die Dokumentation. Doch der Bub im Bild ist kein Opfer - er ist aber auch kein Täter: Sven lebt heute in einer Stadt in Deutschland, und in "Outing" erzählt er offenherzig über seine sexuelle Neigung. Sven ist pädophil: Er fühlt sich zu Kindern hingezogen.
Kaum hat Sven den ersten Satz gesagt, ist man für die nächsten 76 Minuten gebannt. Pädophile Menschen kamen im Film bislang nicht zu Wort.

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Intensive, intime Gespräche
Ausgangspunkt für diesen äußerst beachtlichen Dokumentarfilm war das Projekt "Kein Täter werden" an der Berliner Charité. Es ist eines der weltweit ersten Behandlungsangebote für Männer, die wie Sven fühlen. Thomas Reider hörte davon und begann weiter zu recherchieren. Schließlich trafen er und Sebastian Meise mehrere Männer und stellten fest: Das Bedürfnis war groß, über Pädophilie und vor allem ihren Umgang damit zu sprechen.
"Stillleben" und "Outing" laufen derzeit in den österreichischen Kinos.
"Outing" entstand aus Material zur Recherche. Auszüge aus Kurzgeschichten, kurze Sequenzen aus einem Videotagebuch Svens und Archivaufnahmen verdichten die Interviews zu Sven zu einem packenden Porträt. Die Filmemacher Sebastian Meise und Thomas Reider hatten sich von Anfang an vorgenommen, Sven möglichst unvoreingenommen gegenüberzutreten und ihn nicht für seine Gedanken vorzuverurteilen.
Und dieser Sven macht es einem leicht, sich auf ihn einzulassen und ihm erst mal zuzuhören. Mit über Mitte Zwanzig hat er ein freundliches Babyface, und seine Offenheit, über Intimstes zu sprechen, ist äußergewöhnlich.
Sven erzählt davon, wie unangenehm, weil zu gefährlich ihm die Anhänglichkeit der vierjährigen Cousine zu einem Zeitpunkt war, als er selbst gerade nicht mehr Bub und noch nicht ein Jugendlicher war. Er spricht über seine Verzweiflung über seine sexuellen Begierden, die er nicht ausleben kann, weil er sie nicht ausleben will. Den Selbsthass und die Einsamkeit. Die Kamerabilder konzentrieren sich auf Sven, sie ergaben sich auch aus den Produktionsbedingungen - ursprünglich waren die Gespräche mit Sven als Recherchearbeiten gedacht - und doch könnten sie die Isolation Svens in seinem Alltag nicht besser spiegeln.

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Die Kamera als Korrektiv
Wie sehr der Gesellschaft ein Umgang mit pädophil veranlagten Menschen fehlt und die Auseinandersetzung verstummt, zeigt sich in Svens Elternhaus. Als Sven seinem sichtlich mitgenommenen Vater und seiner Mutter Aufnahmen aus "Outing" zeigt, ist die einzige Antwort ein Appell an Sven, sich weiter an seine Einstellung zu halten: Die Pädophilie nicht in der Realität auszuleben.
Im Verlauf des Films verändert sich Svens Einstellung, langsam verschieben sich seine Prinzipien. Zunehmend erscheint die Kamera die Funktion eines Korrektivs zu bekommen, das sich Sven wünscht. Freunde fehlen, nähere soziale Kontakte beschränken sich auf einen Kreis Pädophiler, die sich in Onlineforen austauschen.
"Outing" beschreibt eine Gratwanderung und nimmt das Kinopublikum mit. Wenn man sich dieses Frühjahr nur eine Doku im Kino anschaut, dann die.