Erstellt am: 20. 5. 2012 - 14:00 Uhr
Reviving Ödipus
"Also gut. Wir nähern uns dem Teil der Geschichte, bei dem wir es dem Leser nicht verübeln können, wenn er gleich bis hierher gesprungen ist [...] dem Teil, in dem eine Mutter Sex mit ihrem Sohn hat." (Ed King, S. 297)
Den dramaturgischen Verfremdungseffekt in seiner Erzählung darf man David Guterson vorerst nicht allzu übel nehmen. Ist es doch ein heißes Eisen, das er hier gleich anpacken möchte. Oder besser, dies vorgibt zu tun. Denn wenn sich Guterson kurz vor dem letzten Drittel seines Romans direkt an seine Leser wendet, ist es auch die Apologie eines Autors, der aus seiner Geschichte nicht mehr herauskommt und daher unweigerlich auf einen unangenehmen dramaturgischen Höhepunkt zusteuert, der nicht mehr abzuwenden ist. Für ihn ist dies allerdings ein durchkalkulierter Sprung mit Fallschirm, denn damit Schlagworte wie "Sex zwischen Mutter und Sohn", "Inzest" und "Ödipus" die Handlung in "Ed King" dominieren können, bemüht der Autor das Schicksal auf das Äußerste. Bevor nämlich die Mutter mit dem Sohne, muss zuerst der Vater dran glauben.
Die Sache mit dem Au-Pair
Hoffmann & Crampe
Seattle, 1962: Walter Cousins begeht einen Fehler, den schon viele Männer vor ihm begangen haben. Er beginnt eine Affäre mit dem Au-Pair-Mädchen. Hoffnungslos unglücklich in seiner Ehe übersieht er bei all den feuchten Träumen, dass das junge Ding namens Diane noch minderjährig ist. Der geneigte Leser sieht schon die Gewitterwolken am Horizont und es kommt, wie es kommen muss: Diane wird schwanger, trennt sich von dem völlig überforderten Walter und erpresst ihn, um auf Lebenszeit Geld für das Kind zu bekommen. Aber Diane ist auch keine Heilige: Sie sackt das Geld ein, gibt ihren kleinen Jungen jedoch zur Adoption frei.
Das Kind wächst bei einer wohlhabenden jüdischen Familie auf, die ihm den Namen Ed King gibt. Obwohl Ed keine Ahnung hat, dass er adoptiert wurde, könnte er seinem leiblichen Vater nicht ähnlicher sein: Walter ist nämlich Versicherungsstatistiker und auch Ed wird daher schon im Teenager-Alter zum Mathe-Wunderkind. Aber er ist auch ähnlich verdorben wie sein Papa: Regelmäßig versteckt er sich in der Umkleidekabine der Mädchen, um diese beim Duschen zu beobachten und zu onanieren.
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm
Man kann sich seine Eltern bekanntlich nicht aussuchen und daher verwundert es wenig, dass Walter und Diane auch ohne ihren Sohn wenig Besserung zeigen. Walter hat weiterhin Affären mit jungen Kindermädchen (bis eines bei seiner Frau petzt) und Diane, der Walters Zahlungen nicht mehr reichen, wird zum Callgirl und später zur Drogendealerin. Walter ist der Erste, den das Schicksal für all die Fehltritte bestraft: eine dunkle Nacht, eine verwinkelte Landstraße und ein anderes Auto, das seines versucht von der Straße zu drängen. Bevor Walter die Vermutung anstellen kann, dass es sich um ein paar betrunkene Jugendliche handeln könnte, die nicht wissen, was sie tun, überschlägt sich sein Auto mehrmals. Walter bricht sich das Genick und ist sofort tot. Am Steuer des anderen Autors saß tatsächlich ein Jugendlicher. Nicht betrunken, aber übermütig und dumm. Seine Name: Ed King.
Noch weiß der Sohn nicht, dass er seinem Vater im Unglück begegnet ist - und ihn dabei umgebracht hat. Aber Ed King wird auch seiner Mutter Diane noch über den Weg laufen. Denn die ist ja bekanntlich Prostituierte.
Alan Berner
Prinz Ödipus
Das Buch gewann 2011 übrigens den unrühmlichen Award für die schlechteste literarische Beschreibung einer Sexszene. Hier dazu eine Kostprobe.
"Männer: Wenn ihr nicht wüsstet, dass die Frau, mit der ihr gerade ins Bett steigt, eure Mutter ist, würde bloßes Misstrauen euch stoppen?
Und Frauen: Ihr seid im Begriff mit eurem Sohn zu schlafen, aber da ihr nicht wisst, dass er euer Sohn ist, welchen Unterschied macht es da? Keinen."
Und nun sind wir wieder auf Seite 297. Jenem Wendepunkt, an dem David Guterson seine Leser vorbereitet auf das, was sie zu provozieren und zugleich anzuziehen vermag. Guterson, bekannt für seinen Welt-Bestseller "Schnee, der auf Zedern fällt" und der gleichnamigen Verfilmung mit Ethan Hawke, schreibt auch hier in große Erwartungen hinein. Ihm gelingt es durchaus eine raffinierte Neu-Erzählung des Ödipus-Konfliktes mit brutalem Humor anzureichern. Keine unbedingt neue Idee, man erinnere sich nur an "Homo Faber" von Max Frisch, aber in Gutersons Erzählweise findet sich eine gewisse Leichtigkeit, und so wird aus dem Orakel von Delphi schon einmal eine futuristische Suchmaschine und der Trip durch das Leben von Ed King eine bunte, postmoderne Zitat-Ansammlung.
Weitere Leseempfehlungen:
Ein Buch, das "ein Bild der prüden USA unserer Zeit" zeigen und der Gesellschaft den Spiegel vorhalten möchte, muss aber scheitern, wenn es die Entschuldigung des einkalkulierten Skandals gleich mitliefert. Die Transformation des Ödipus-Mythos funktioniert bei Guterson nämlich nur durch die Unwissenheit aller Beteiligten, und angesichts der seitenlangen Vorbereitung des Autors auf die gleich beginnende Sex-Szene zwischen Mutter und Sohn, scheint dies die einzig vorstellbare Gangart zu sein, die dieses Buch zu kennen scheint. Es wirkt aufgesetzt und ängstlich, wenn Guterson ausführlich seine Rechtfertigung argumentiert, wohlwissend, dass der Leser ohnehin nicht antworten kann. Ein heißes Eisen, über das der Autor zwar gern schreiben, es aber lieber nicht angreifen möchte.
"Ed King" ist an vielen Stellen humorvoll und pointiert, vielleicht manchmal zu konstruiert. Aber es ist auch ein Buch mit einer zutiefst konservativen Botschaft und einem Skandal, der nicht einmal in der Fiktion hält.