Erstellt am: 10. 5. 2012 - 14:44 Uhr
Kampfhunde und Essensmarken innerhalb der 8 Mile
Mayer Hawthorne aus Detroit wohnt nicht im Zentrum der verfallenden Pleitestadt, wo nur mehr bettelarme schwarze Menschen leben, allein gelassen mit sozialen Problemen, Drogen, Armut und Gewalt. Er lebt längst in einem der ironischerweise sehr reichen Vororte von Detroit.
Mayer Hawthorne
Auch Eminem wohnt nicht mehr in der Gegend innerhalb der 8 Mile Street, wie sein Film "8 Mile" uns glauben ließ, sondern schön außerhalb. Und Jack White ist sowieso schon längst nach Nashville abgehaut.
Detroit ist eine Stadt, in der sogar die Toten wegziehen. Viele wollen ihre Verstorbenen nicht mehr auf dem Friedhof besuchen, weil sie Angst vor der inneren Stadt haben. Die Toten werden exhumiert und kommen mit in die bessere Gegend.
Es sieht nicht gut aus für Detroit, die sterbende Ruinenstadt. Die deutsche Autorin und Popkultur-Journalistin Katja Kullmann wollte sich das im Herbst 2011 mit eigenen Augen anschauen.
Yves Marchand and Romain Meffre
Viele Detroiter Bürger bieten inzwischen Touren zu Industrie-Wracks und ausgehöhlten Jugendstil-Perlen an, manchmal werden bis zu 100 Dollar pro Führung und Fotosafari verlangt. Der 'Ruins Guide' ist in Detroit ein eigenes Berufsbild geworden.
Katja Kullmann ist auf der Suche nach der Wahrheit über Detroit. Kampfhunde, Essensmarken, Jugendliche, die zu Halloween leerstehende Häuser abbrennen.
Katja Kullmann
Betroffen aufessen.
Und sie leidet unter einer gewissen Über-Identifikation mit Detroit. Sei es, dass sie ihren Reisekoffer mit unbedruckten Kapuzenpullovern füllt, um niemand zu provozieren, und dabei schwört, immer auf der Seite von Detroit zu stehen.
Sie erschrickt beim Autoverleih, dass sie wohl mit einem Hyundai durchs ehemalige Herz der US-Automobilindustrie sausen wird. Am Ende der Reportage wird sogar von einem kleinen Häuschen in Detroit geträumt, für nur 5.000 Dollar. Das ist einerseits ehrlich, andererseits erinnert sie an Merle Hilbk, die Autorin von "Tschernobyl Baby", die auf ihrer Reise von den interviewten UkrainerInnen gefragt wird, warum ausgerechnet sie als Deutsche sich so betroffen fühle, mit Deutschland habe das ja schließlich alles nichts zu tun.
Universal
Aus dem Buch
Sommer 2011: Mehr als 130 Stellen für Busfahrer sind ab sofort gestrichen, weil die Stadt kein Geld mehr hat. Außerdem wurden 60 öffentliche Schulen geschlossen.Die Kinder aus den betroffenen Stadtteilen werden mit Bussen in andere Viertel gebracht. Es soll jetzt dort Klassen geben, in denen 45 und mehr Kinder sitzen. Die Fahrtzeit dauert bis zu einer Stunde.
Und das, obwohl die Fehlzeiten in den öffentlichen Schulen sowieso schon ein Problem sind,die Kids schwänzen häufig.
Eine bemerkenswerte kommunalpolitische Entscheidung, [...]
zumal in einer Stadt, in der die Analphabetenrate bei um die dreißig Prozent liegt --- und deren Entscheidungsträger neuerdings eine kreative Wissensgesellschaft anstreben.
Kullmann bleibt mehrere Wochen, um der Frage auf den Grund zu gehen, ob Detroit vielleicht das neue Berlin werden kann, voll mit Künstlern, Musikerinnen, die den Wert der Ruinen und leeren Skyscrapers steigern, so wie es sich die Investoren erhoffen. Die reiche "organic coffee trinkende Kundschaft" soll dann nachziehen, und neue Jobs für Wäscherinnen, Installateure und Gärtner schaffen.
Uncool und mit leeren Händen
Free Press Detroit
Aber das ist eben nur Investorengerede. Während Berlin schon während der deutschen Teilung ein Hafen für Wehrdienstverweigerer, Lebenskünstlerinnen und Musiker war, steckt Detroit seit den 60ern in einem grossen Strukturwandel , der Arbeitslosigkeit und Abwanderung gebracht hat. Detroit steht also eher so da wie das Ruhrgebiet in den 80ern. Uncool und mit leeren Händen. Und die Greißler heißen Liquor Stores.
Patrick Ohligschlaeger
"Warst du schon mal in einem Liquor Store?", fragt [Mike Banks von Underground Resistance]. "Fast täglich", antworte ich. -"Ist dir das ganze Backpulver aufgefallen? Man
braucht es für die Zubereitung von Crack. Ist es nicht interessant, dass das Backpulver auf diese Art verkauft wird: auf meterlangen Regalen, in allen Varianten - obwohl es sonst gar keine Zutaten zum Backen gibt in den Liquor Stores, keine frischen Eier, nur in Ausnahmefällen Mehl? Ist es nicht aufschlussreich, dass, obwohl Rauchen überall verboten ist, genau wie Alkohol in der Öffentlichkeit, und obwohl jeder weiß, wofür das Backpulver verwendet wird, dass niemand sagt: 'Stopp! Räumt das Zeug weg!'?"
Leider klappert Kullmann bei aller Journalistinnenehre dann doch nur die sozialen Suppenküchen mit selbstermächtigender Stadtfarm, die paar Hipster in Corktown und die Techno-Fundamentalisten von Underground Resistance ab. Davon habe ich schon längst in anderen Reportagen gelesen.
HolydieExplorer.com
Ausnahme
Ausnahme: People's Records, ein Fachgechäft für gebrauchte Schallplatten. Motown verkauft sich gut an Touris und im Internet.
"Wo kommen die Platten eigentlich her?" - "Das meiste stammt aus den verlassenen Häusern. Ich schätze, dass in jedem zweiten Haus im Keller oder auf dem Dachboden Schallplatten lagern. Wenn du plötzlich auf die Strasse gesetzt wirst, dann sind Platten vermutlich das Letzte, an was(!) du denkst. Sie sind ja auch schwer zu transportieren, allein wegen des Gewichts. Manchmal liegen sie auch in einer Garage, oder man findet sie in einer stillgelegten Radiostation. Es gibt Jungs, die wissen, dass ich die Platten weiterverkaufen kann. Sie holen sie aus den Ruinen raus und bringen sie vorbei."
Einer der besten Artikel über faule Journalisten und faken Detroiter "Ruinenporno" aus Kullmanns Linksammlung: "Something, something, something, Detroit" von Thomas Morton.
serah marie via yelp
Interessanter als die Reportage sind für mich die brandaktuelle Detroit-Linksammlung hinten im Buch; Kullmanns sorgfältige Fußnoten und Verweise auf historische Stadt-Theorien. Das Buch als Hypertext, der zu anderen Quellen verlinkt. Das passt doch ganz gut zu einem Büchlein, das in der Edition Suhrkamp Digital erschienen ist.