Erstellt am: 3. 5. 2012 - 14:15 Uhr
Same Old Hahnenkampf
Während ich das hier schreibe, wird in London noch gewählt. Laut allen Umfragen liegt Boris Johnson eindeutig voran, seit Ken Livingstone sich während des Wahlkampfs mit just jener Art von Steuervermeidung, die Boris' finanzkräftige Unterstützer mit größter Selbstverständlichkeit praktizieren, schwer in die Bredouille gebracht hat.
Mein Resümee von vor vier Jahren, aus einer anderen Welt.
Dass ihm im auf die Enthüllungen folgenden Medienwirbel so wenige seiner früheren Verbündeten zu Hilfe kamen, hat viele Gründe, darunter nicht zuletzt Livingstones frustrierend unbefriedigende Antworten auf in den letzten Jahren gegen ihn erhobene Antisemitismusvorwürfe.
Jener „Red Ken“, der sich 2000 bei den ersten Londoner Bürgermeisterwahlen als von weiten Teilen der Labour-Basis unterstützter, unabhängiger Kandidat gegen Tony Blairs Widerstand durchsetzte und 2004 wegen seiner großen Popularität erst zurück in die Partei aufgenommen, dann locker wiedergewählt wurde, hat in den letzten vier Jahren Opposition einiges von seinem in den Achtzigern als Chef des Greater London Council gewonnenen Status als linker Volksheld eingebüßt.
In einer totalen Umkehrung zu früheren Wahlen liegen seine Umfragewerte heute weit unter denen einer erstarkten Labour Party, in die Livingstone sich auch nach Blair und Browns Abgang nie wieder integrieren konnte oder wollte. Stattdessen erscheint er eigentümlich arrogant und auf sich selbst fixiert.

Ken Livingstone
Wenn sich die Pro-Ken-Stimmen in meinem Twitter-Feed mit Hinweisen darauf behelfen, dass Boris der größere Rassist sei (hier z.B. sein berüchtigter, das Wort "piccaninnies" gebrauchender Artikel aus dem Daily Telegraph und die dazugehörige inhaltslose Entschuldigung), dann schafft das noch lange keinen Enthusiasmus für Ken.
Nicht von der Hand zu weisen ist jedenfalls, dass die mediale Reduktion der Bürgermeisterwahl auf ein Wettrennen der Persönlichkeiten Livingstone schadet und Johnson nützt, zumal letzterer immer noch von seinen humorigen Fernseh-Auftritten als Quizmaster der Satire-Show „Have I Got News For You“ profitiert, geschickt jeden Hinweis auf seine Zugehörigkeit zu den in landesweiten Umfragen auf unter 30 Prozent abgesackten Konservativen unterlässt und sich öffentlich von seinem Parteichef und Premierminister fernhält.
Eine offensichtlich erfolgreiche Strategie, obwohl der Bürgermeister in Bezug auf die umstrittene Steuersenkung für Großverdiener selbst noch weiter geht als die von den Tories angeführte Regierung.

Boris for London
Johnsons Beharren auf dem insbesondere nach dem Banken-Bailout faktisch nicht haltbaren Mythos, dass die City den Rest der Stadt finanziert, wurde von der Londoner Gratispresse den ganzen Wahlkampf hindurch ebenso beharrlich unterstützt.
Ganz zu schweigen von der Murdoch-Presse, mit deren eskalierendem Telefonabhörskandal sich Johnson indirekt assoziiert sah, was ihn in einem Fernsehinterview zu einer seiner vielen verbalen Entgleisungen (“Fucking bollocks!“) verleitete.
Es war nicht Johnsons erster Temperamentsausbruch in diesem Wahlkampf. Nach einer Diskussion der KandidatInnen beim Radiosender LBC vor einem Monat nannte er seinen Kontrahenten Livingstone im Aufzug einen “fucking liar“.
Ich für meinen Teil glaube ja, dass ihm diese Episoden eher Stimmen bringen denn kosten, siehe den boxkampfartigen Ton der ihm geneigten Berichterstattung in Murdochs Sun: Johnson mag reich und ein Aristokrat sein, aber ein „fucking“ zur rechten Zeit beweist seine scheinbare Volkstümlichkeit.
Einer der wenigen konkret sachlichen Inhalte des von oben beschriebenen Ablenkungen geplagten Wahlkampfs war der enorme Anstieg der Fahrkartenpreise während Johnsons Amtsperiode (mittlerweile 19,50 Euro für eine volle Tageskarte), den Livingstone rückgängig zu machen verspricht.
Die Behauptung, dass Johnson mit seinen Preiserhöhungen einen Budget-Überschuss angehäuft hat, um der Regierung eine Senkung der Fördergelder für das Verkehrsnetz zu ermöglichen, hängt unwiderlegt in der Luft.
Um daraus Kapital zu schlagen, hätte Livingstone allerdings den Zynismus der WählerInnen durchdringen und in seinen eigenen Versprechungen glaubwürdig erscheinen müssen. So wie es aussieht, ist ihm das nicht gelungen.
Und bevor ich's vergesse: ja, es gibt noch andere KandidatInnen wie den Liberaldemokraten und Ex-Polizisten Brian Paddick, die Grüne Jenny Jones und die Unabhängige Siobhan Benita.
Aber abgesehen davon, dass Jones Paddick zu überholen droht, wird deren Abschneiden neben dem großen Hahnenkampf Boris versus Ken keine entscheidende Rolle spielen. Ich werde mich wieder melden, wenn das Ergebnis bekannt wird.
Update um 1 Uhr früh, 5.5.:
Nun hat es also weit länger gedauert als gedacht, die Entscheidung via Zweitstimmen war am Ende eine äußerst knappe.
Boris Johnsons Sieg ist nur ein halber, denn Labour hat im Greater London Assembly nun zwei Sitze mehr als die konservative Fraktion des Bürgermeisters.
Ken Livingstone wird seine politische Karriere beenden.
Die Grüne Jenny Jones erreichte mit 5% den dritten Platz, noch vor dem Liberaldemokraten Brian Paddick und der Unabhängigen Siobhan Benita.
Londons Wahlen stehen in Kontrast zu den Ergebnissen im Rest der britischen Kommunalwahlen vom 3. Mai, in denen Labour auf 38% versus 31% für die Tories und nur 16% für die Liberaldemokraten kam. Ein Erdrutsch zugunsten Labours, der die Regierungskoalition im Unterhaus vor die Existenzfrage stellt.
Es ist kein Geheimnis, dass Johnson innerhalb der Tories auf die große Hauptrolle schielt und seine Wiederwahl gegen den nationalen Trend verleiht ihm ein potenzielles Sprungbrett dafür.