Erstellt am: 3. 5. 2012 - 10:56 Uhr
Blutrotes Europa
CHRISTIAN: Sebastian und Doc, ihr wohnt ja in Stuttgart und Graz, deshalb gebe ich euch eine kleine Einführung. Schon seit Jahren kuratiert FM4-Filmredakteur Markus Keuschnigg eine grandiose Leiste beim Linzer Crossing Europe Festival, in der er vielfältige und radikale Positionen des europäischen Genrekinos vorstellt. In den letzten beiden Jahren reichte die Auswahl von französischen Slashermovies über beklemmende britische Horrorthriller hin zu belgischen Action-Komödien.
Slashing Europe Festival
Nachdem der geschätzte Kollege Keuschnigg auch zu den Köpfen hinter dem Wiener Slash Festival steckt, ist es naheliegend gewesen, einen kleinen internen Austausch zu betreiben. Und so kommen heute und morgen, Freitag beim Slashing Europe auch Splatter-Afficionados und Horrorjüngerinnen in der Bundeshauptstadt in den Genuss der blutigen Euro-Delikatessen und düsteren Schätze aus dem internationalen Festivalgeschehen. Wenn ihr euch das Programm durchschaut, auf was freut ihr euch am meisten?
Sebastian Selig lebt im Kino, einem furchtbar dunklen Ort, in den ganz strahlend bunt das Licht einfällt. Was ihm aber dennoch fehlt, sind Bahnhofskinos. Davon bitte wieder viele. Überall.
Dr. Nachtstrom verlässt sein Chalet in den steirischen Wäldern nur, um als Co-Host zusammen mit Christian Fuchs das House of Pain zu betreuen. Seinen unersättlichen Hunger auf Horrorerzeugnisse aller Art teilt er auf dem Blog blutundbeuschel zusammen mit einer Dame namens La Comtesse Noire mit der Öffentlichkeit.
SEBASTIAN: An „Livide“, diesem Gischt-bestäubten Ausflug an die französische Atlantik-Küste, gibt es natürlich kein Vorbeikommen. Der ist schon verdammt schön. Auch auf die gleich im Anschluss stattfindende spanische Hochzeitsparty mit Bluterguss, „REC3: Genesis“, freue ich mich sehr. Ein wenig Angst habe ich vielleicht vor dem Wochenende in der „Cabin in the Woods“. Sicher clever dort, aber ich fürchte, gleichzeitig auch viel zu lustig.
CHRISTIAN: Ich kann dich beruhigen. In der Hütte im Wald geht es ausgesprochen clever zu, dort drinnen hagelt es lustige Referenzen, aber auf eine Weise, von der sogar Tarantino und Wes Craven nur träumen können. Es ist schwer, über den einzig amerikanischen Film im Programm zu reden, ohne in diesem Fall essentielle Spoilergesetze zu übertreten. Aber nur soviel: „The Cabin in the Woods“ ist eine Meta-Über-Drüber-Reflexion des Horrorgenres, die nicht nur die Köpfe rauchen lässt, sondern auch für richtigen Grusel sorgt. Und für pure Euphorie. Der Film ist wie eine Kreuzung aus Baudrillard, Sam Raimi und H.P. Lovecraft, durch den Filter der Reality-TV-Gegenwart.
DOC: Gar keine Frage, ich freu mich auch auf “Livide”. Ich hatte bereits die Gelegenheit, vorab eine Pressekopie zu sehen, und muss sagen, der hat mich über alle Maßen begeistert. Eine wunderbare französische Perle, die ganz sicher polarisieren wird, aber ein innovativer Ansatz, das Horrorgenre auf eine neue Ebene zu führen. Hat mir als Nerd absolut gut getan, nach dem quälenden Missvergnügen mit dem beispielsweise entsetzlichen “Hostel 3”, die kommerzielle Ausbeutung auf niedrigem Niveau eines einstigen Horrorklassikers mitansehen zu müssen. “Livide” beschreitet neue Wege, scheitert zwischendurch ein bisschen, aber der Wirbelsturm an Genrezitaten ab der Hälfte des Streifens entschädigt für alle kleinen Makel.
Slashing Europe Festival
CHRISTIAN: Sollte man eine Flasche Champagner aufmachen, dass es mit „Hell“ endlich einen ordentlichen Genrefilm made in Germany gibt?
Slashing Europe im Wiener Filmcasino - das Programm:
3. Mai:
19.00 Uhr – HELL
21.00 Uhr – LIVIDE
23.00 Uhr - REC3: GENESIS
4. Mai:
19.00 Uhr - BLACKS'S GAME
21.00 Uhr - SLEEP TIGHT
23.00 Uhr - THE CABIN IN THE WOODS
SEBASTIAN: Ich sehe das ziemlich unpatriotisch, ein Filmfestival ist keine Fußball-WM. Aber natürlich wünsche ich mir schon, die Filme hierzulande würden damit aufhören, ständig nur noch hinter dem Stöckchen der Korrektheit hinterher zu hecheln und wieder etwas mehr Schmutz im deutschen Kino wagen. Dem Deutschen Film mangelt es auch sicher nicht an „Handlung“ oder gar „spannenden Figuren“. Im Gegenteil, von diesem Bild im Kopf sollte er sich endlich mal befreien, dann riecht es im Kino auch nicht mehr ganz so streng nach Besinnungsaufsatz. Dominik Graf brachte das kürzlich erst anlässlich des deutschen Filmpreises ziemlich auf den Punkt: „Das Bildungsbürgerliche, das thematisch Beflissene am Output des deutschen Films wird langsam penetrant.“
DOC: Ich habe da ja einen etwas weiteren Blickwinkel, mit Andreas Marschall (“Tears of Kali”) hat Deutschland ja schon früher einen guten Genrefilm abgeliefert und da ich - vermutlich im Gegensatz zu euch - auch den Splatter-Underground mag, würde ich sagen, mit Olaf Ittenbach gibt es da einen großartigen Künstler. Aber ganz klar, das ist nur für Fans der härteren Gangart interessant, internationales Rennommee bekommt man damit natürlich keines.
SEBASTIAN: Andreas Marshalls „Tears of Kali“ liebe ich auch sehr. Entsprechend brennend fiebere ich da auch bereits seinem neuen Film, der Dario Argento-Hommage „Masks“ entgegen. Wirklich schade, dass nicht der anstelle des ungleich weniger spannenden „Hell“ den Weg auf die Leinwand des Slashfilm Fest gefunden hat.
Slashing Europe Festival
CHRISTIAN: Olaf Ittenbach, mein lieber Doc, du hast wirklich einen sehr offenen Zugang zum Genre. Aber warum gibt es so wenig Horrorkino aus Österreich und Deutschland?
SEBASTIAN: Wie gesagt, Tears of Kali“ sowie natürlich „In 3 Tagen Bist Du Tot“ (insbesondere der herausragend schöne zweite Teil), das war schon alles genau in die richtige Richtung, aber ist leider noch immer viel zu sehr die Ausnahme. In einer Art starrer Das-gehört-sich-nicht-Verbissenheit, dazu noch mit der „Trash“-Brille auf der Nase und der unbeweglichen Spießigkeit der Fördergremien im Rücken, vergibt man sich da immer noch viel zu oft die aller-schönsten Möglichkeiten. Gerade das deutsche Kino könnte, beispielsweise da auch ausgehend von seiner großen Märchentradition, doch eigentlich aus dem Vollen schöpfen. Tut es aber leider noch viel zu wenig. Schade.
CHRISTIAN: Ich kann nur heftig mit dem Kopf nicken zu diesen Worten.
SEBASTIAN: Ich meine, alleine schon die Edgar Wallace Filme haben da schließlich mal den Giallo, also die Königsklasse des Horrorkinos, auf den Weg gebracht...Was, wenn nicht das sollte da deutsche Produzenten, Kinobesitzer und Filmverleiher ermutigen, hier nicht endlich doch mal wieder auf wildes, buntes Kino zu setzen?
DOC: Leider sind diese Fördergremien im Rücken oft auch ein Hemmschuh, sich kreativ zu verwirklichen. Ich bin der letzte, der behaupten würde, eine Förderung wäre grundsätzlich nicht nötig. Ich habe allerdings kürzlich mit einem erstaunlichen steirischen Projekt namens “Pantherion” zu tun gehabt, eine große Anzahl enthusiastischer Freiwilliger, die mit null Budget innerhalb von zwei Jahren einen beachtlichen zweieinhalbstündigen Mysteryfilm gedreht haben. Den kann man auf Youtube ansehen, einfach das Wort “Pantherion” eingeben. Was ich damit sagen will: junge Talente könnten sich auch einmal in dieser Richtung ihre ersten Sporen verdienen und wer weiß, vielleicht findet sich dann ja auch ein Produzent? Weil die Filmförderung in Österreich ist inzwischen dermaßen minimal, dass es wohl kaum viel Sinn macht, darauf zu hoffen, für ein Horrorwerk entsprechende Gelder zu bekommen.
Slashing Europe Festival
CHRISTIAN: Was sind eure liebsten Erinnerungen an den legendären Euro-Horror der 70er und 80er?
SEBASTIAN: Der Euro-Horror der 70er und 80er, man könnte auch sagen, die Blüte europäischer Filmkunst, war natürlich sehr italienisch und Dario Argento der Meister. Die Fülle an Werken, die in dieser Zeit entstanden, davon lässt sich mindestens zwei Leben lang zehren.
CHRISTIAN: Mir kommen neben Maestro Argento auch unzählige Provinzkinoabende und Videokassetten-Initialzündungen in den Sinn, wo es vor Zombies á la Lucio Fulci, italienischen Kannibalen, aber auch französischen Vampiren á la Jean Rollin und spanischen reitenden Leichen wimmelte. Glückseligmachender Stoff, der mich ewig begleiten wird.
SEBASTIAN: Ja davon wieder mehr. Jetzt. Meinem Gefühl nach stehen wir heute auch wieder kurz davor, dass sich das europäische Kino hier bald noch einmal in beinahe ähnlicher Weise neu und frisch erfindet. Das europäische Kino wieder ganz zu sich selbst findet. Im neuen französischen Kino, dieser „Nouvelle Vague Extreme“, zeichnet sich dieser Trend ja bereits ab. Auch was hier zunehmend aus dem Norden, aus Finnland, Dänemark oder auch Schweden kommt, lässt auf einen längst überfälligen Generationswechsel im Euro-Kino hoffen. Gleichzeitig boomen England und Spanien. Die kommenden zehn Jahre werden da wirklich wieder verdammt spannend für das Kino.
DOC: Ich gebe ehrlich zu, dass ich meine Euro-Horror-Phase in den vergangenen Jahrzehnten dermaßen ausgelebt habe, dass meine damaligen Lieblingsfilme von Argento, Fulci, Mattei, D'Amato und wie sie alle heißen, heute eher in sündteuren, ungeschnittenen DVD-Versionen als Museumsstücke in meinen Regalen fungieren. In den letzten Jahren habe ich mich eher an den revolutionären Beiträgen aus Frankreich zum vielgeschmähten Torture Porn-Genre erfreut. Da, wo die amerikanischen Genre-Regisseure sehr schnell ihren Biss verloren und sich auf immer schlechteren und langweiligeren Sequels ausgeruht haben, haben die französischen Filmemacher Originalität und Wildheit bewiesen. Egal, was man nun von Pascal Laugiers “Martyrs”, Gens “Frontier(s)”, Alexandre Ajas “High Tension” oder “Inside” von dem Regisseursduo Bustillo und Maury halten mag, innovative Beiträge zu einem langweilig gewordenen Genre sind sie allemal. In diesem Zusammenhang möchte ich unbedingt noch den grandiosen Streifen “Balada triste de trompeta” von Álex de la Iglesia erwähnen, der bei uns unter dem Titel “Mad Circus” bereits auf DVD und Blu-ray zu erwerben ist. Ein Genregrenzen sprengendes Meisterwerk.
Slashing Europe Festival
CHRISTIAN: Oh ja, ein Film zum Verneigen und blutigen Abküssen. Apropos Spanien, ich bin ja auch schon extrem auf „Sleep Tight“ beim Slashing Europe gespannt. Während ihr die brutalen jungen Franzosen liebt, ist Jaume Balagueró ja mein Euro-Gänsehaut-Gott. Der nachtschwarze Pessimist des spanischen Horrors hat eine ganz eigene Handschrift. Und die ist morbid und stylish zugleich. Mit dem okkulten Thriller "Los Sin Nombre - The Nameless" hat er 1999 für mich Schauergeschichte geschrieben. Und zumindest der erste [REC] von Balagueró und Paco Plaza war mein liebster Beitrag zum Mockumentary-Genre. Dieses spanische Wackelkamera-Epos wirkte konsequenter, härter, hoffnungsloser als „Blair Witch Project“, „Cloverfield“ und „Paranormal Activity“ zusammen.
SEBASTIAN: Hach... ich schwelge da sofort wieder in haltloser Verzückung, denke ich an “Martyrs“. Ich glaube, alleine schon, was dessen filmgeschichtliche Bedeutung angeht, ist der ist für den Horrorfilm das, was „2001 – Odysse im Weltraum“ für den SF-Film darstellt. Ein wahrlich makelloses Meisterwerk, das keine Gefangenen nimmt.
Slashing Europe Festival
CHRISTIAN: Keine Gefangenen – ein schönes Motto auch für das Slashing-Europe-Festival, zwei Marathon-Abende im Kino warten!