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Katharina Seidler

Raschelnde Buchseiten und ratternde Beats, von Glitzerkugeln und Laserlichtern: Geschichten aus der Discommunity.

1. 5. 2012 - 03:54

Gesamtwahnsinn

Donaufestival, Tag 3: Scout Niblett, Busdriver & Nomi Ruiz, das CocoRosie-Gesamtkonzert

Donaufestival 2012

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Am dritten Konzertabend des ersten Donaufestival-Wochenendes vereinen die Kuratorinnen CocoRosie Bands, bei deren Namen man vielleicht erst beim zweiten Hinschauen Oho! ruft, dafür aber dann so richtig, und lassen die Nacht gleich mit einem Knall und Höhepunkt beginnen. Wer erste Müdigkeitserscheinungen gespürt hat, bekommt die Geister von Scout Niblett und dem Schoßhündchen Satans ausgetrieben. Philipp L´Heritier als Scout Niblett-Experte und ihr neuer BFF übernimmt hier:

scout niblett

Florian Schulte

Scout Niblett + Lapdog of Satan

"Als ein, wenn nicht gar DER Höhepunkt des Donaufestivals so far erweist sich das Eröffnungskonzert am Montagabend: In der Minoritenkirche treffen da nämlich Scout Niblett und Lapdog of Satan aufeinander. Die große, englische Musikerin Scout Niblett, die mit ihrer Gitarre und ihrer Stimme den drögen Begriff „Singer/Songwriterin“ schon seit über zehn Jahren endgültig giftig entstaubt und mit galligem Beigeschmack aufgeladen hat, hat bislang fast ausschließlich fantastische Platten voll mit minimalistischer, bis aufs Gerüst entschlackter Rockmusik veröffentlicht, die scharf-kantig Richtung Noise weist. Das doch recht unbekannte Duo Lapdog of Satan ist währenddessen im Thrash-Metal zuhause.

scout

Florian Schulte

Das Konzert der dreien präsentiert sich jedoch nicht als Niblett-goes-Thrash, sondern als echt zusammengemorphte Band auf Zeit. Es gibt Coverversionen von alt-alten Gassenhauern, die im Soul und Rythm&Blues wurzeln, beispielsweise von den Everly Brothers und Irma Thomas, außerdem zu weiten Teilen brandneue, bislang unveröffentlichte Stücke von Scout Niblett zu hören. Auf der Bühne wird eine Umdeutung von Seelenschmerz und Torchsongs in Wüstenrock, Doom und eine allgemeine Verbeugung vor Black Sabbath vollzogen. Es werden schwere Riffs aus den Gitarren geholt, der Mann an den Drums macht, wenn er dann immer wieder aus seiner Trance erwacht, Animal aus der Muppet-Show seine Rolle streitig - aber auch Cello wird gespielt, und irgendwann bläst auf der Bühne jemand ein erotisch-schwülstiges Solo in seine Bass-Klarinette. Man weiß nach diesem Konzert 1) dass, hey hey, my, my, RocknRoll ohne Rüschen und elektronische Girlanden ab und an, nicht nur nicht sterben soll, sondern auch eine neue Welt bedeuten kann 2) die Kombination Niblett/Lapdog sich überlegen könnte, eine reguläre, öfter gemeinsam auftretende Band zu werden und 3) dass es nie zu viele Saxofone oder Saxofon-ähnliche Instrumente auf einer Bühne geben kann. In Kürze: Ein Wahnsinn. Hier kann man ansatzweise erahnen was es bedeutet, einmal dann doch in die Kirche gegangen zu sein.

offf love

Florian Schulte

O F F Love
light asylum

Florian Schulte

Light Asylum

O F F Love präsentiert seine eigentliche sehr gute, bei einem Sub-Label von Kompakt erschienene Platte als Voll-Karaoke. Autotune, runtergepitchte RnB-Schnipsel und Zeitlupen-Beats. Auf Tonträger sehr gut und live auch ein bisschen egal.

Und dann spielen Light Asylum, über die an dieser Stelle schon berichtet wurde, ein reguläres Konzert."

Danke Philipp! Ich übernehme wieder:

Busdriver & Nomi Ruiz

Nomi Ruiz

Florian Schulte

Nomi Ruiz

Wer hätte gedacht, dass von all den ungewöhnlichen Hochzeiten des Donaufestivals diese am ungewöhnlichsten sein würde. Der kalifornische Hip Hopper Busdriver und die New Yorker Disco-Sirene Nomi Ruiz haben sich erst heute Nachmittag kennengelernt, heute Nachmittag zum ersten Mal gemeinsam geprobt. Busdriver selbst meint im Interview kurz vor der Show, dass er selbst nicht genau weiß, was da auf sie zukommt. Diese Unsicherheit überträgt sich auch während des Auftritts. Während Nomi ihre lasziven Disco-Burner von CD spielt und dazu singt, übrigens mit einer unglaublichen Stimme voll Sex und Soul, steht der Rapper kurz unbeholfen herum und macht sich dann an ihren CD-Playern zu schaffen. Weil er aber ein Wortakrobat ist, und zwar einer der besten und ausgeklügeltsten Sorte, und kein Beatjongleur wie seine kalifornischen Produzenten aus der Brainfeeder-Posse, geht der Versuch schief, der Rhythmus kommt ins Stottern und Nomi auch. Der Song endet trotzdem mit Lachen, Umarmung und Jubel aus dem Publikum.

Busdriver

Florian Schulte

Busdriver

Das ist das Schöne an dieser Hochzeit: Die beiden Protagonisten spüren sehr wohl, dass sie sich besser kennenlernen hätten müssen, bevor sie ein Beatbett teilen. Das Wohlwollen bleibt dennoch auf ihrer Seite. Hier stehen zwei gute Künstler, jeder in seinem Metier, die sich gerade etwas schwer tun, aber darüber lachen können. Im Endeffekt einigen sie sich auf ein Doppelkonzert, bei dem jeder abwechselnd einen Song aus dem eigenen Repertoire performt und der andere ihm dabei den größtmöglichen Respekt zollt. Mit etwas mehr Probe-Zeit wäre das eine spannende Kollaboration geworden. Sympathischer kann man nicht scheitern.

Florian Schulte

Nomi Ruiz & Busdriver

Die achte Nacht

Sierra Casady

Florian Schulte

Sierra Casady

Irgendwann geht der Knopf auf und alles macht Sinn. Die Schnurrbärte von CocoRosie, der Operngesang und die indische Folkloretruppe. Das harmless monster, das in der bestehenden Gesellschaft nicht glücklich werden kann, der Ausdruckstanz, die Kostüme, Perücken, Haarbüschel als Schals, die Metal-Band, der Beatboxer, alles fügt sich zu jener Welt zusammen, an der das Gesamtkunstwerk CocoRosie unablässig baut. „God is just a word with a G“, sagt Bianca, nicht mehr und nicht weniger, und am achten Tag und in der achten Nacht ist es nicht Gott, der ein neues, besseres Paradies erschafft, sondern der Mensch selbst. „Replacing religion with creativity“, vielleicht bündeln sich die Steinchen aus dem CocoRosie-Kaleidoskop am besten in diesem Satz.

Die Überlegenheit der Außenseiterposition kann man kaum eindrucksvoller demonstrieren als in diesem zweistündigem Konzertwahnsinn. Hier darf jeder philosophieren, herumalbern, sich kindlich oder sinnlich geben, sich am Boden wälzen oder in die indische Flöte pusten. Er darf eine Sie sein, Mann, Frau, Kind oder alles zusammen und verdammt begehrenswert.

Bianca Casady

Florian Schulte

Bianca Casady

Das Ensemble, bestehend aus den allwissenden Lapdog of Satan, den indischen Rajahstan Roots, einer zusätzlichen Sängerin mit Haarschleife und dem französischen Beatboxer TEZ, ist nach den wochenlangen Proben perfekt aufeinander eingespielt, und dass Bianca und Sierra auf die kleinste Regung ihrer Schwester reagieren können, spürt man mit geschlossenen Augen. Dass Antony, Sissy Nobby, Busdriver, Nomi Ruiz und Shannon von Light Asylum die Familie vervollständigen, die die letzten Tage in Krems (noch mehr) zusammen gewachsen ist, ist da quasi Zusatzbonus.

Man kann die CocoRosie-Philosophie spirituell finden, albern, kitschig, übertrieben oder wunderschön, glauben möchte man es in jedem Fall: „All that matters is the inside“. Das haben CocoRosie erreicht: Man will Teil von diesem Paradies sein.

Florian Schulte

Florian Schulte