Erstellt am: 30. 4. 2012 - 06:00 Uhr
Master Of My Make-Believe
Alle FM4 Artists Of The Week unter: http://fm4.orf.at/artistoftheweek
In all den überwiegend wohlmeinenden Rezensionen zum neuen Santigold-Album "Master Of My Make-Believe" wird nur selten ein Aspekt im Leben und Schaffen der 35-jährigen New Yorkerin zur Sprache gebracht. Ein Aspekt, der jedoch einen wesentlichen Einfluss auf Inhalt, Stoßrichtung, ja Sound und Tonalität ihrer Songs hat. Mrs. White ist eine hochdekorierte Veteranin der Musikindustrie. Über ihrer Vita thront die Multitude ihres Styles zwischen Afrobeat und Punk, Pop-Militanz und -Hook, Postfeminismus und post race. All das lässt sich herleiten aus dem Aufwachsen und Erwachen zwischen der Fela Kuti Plattensammlung ihres Vaters, dem Post-Punk und New Wave Sound ihrer kindlichen Neugierde. Aus dem Heulbojen-Dasein als Frontfrau der von Bad Brains Bassisten Darryl Jenifer produzierten Punk Band Stiffed und dem Musik- und African-Amercian Studies Lehrgängen an der Wesleyan Kunstuni in Connecticut, die sich in den letzten Jahren zur Ziehstätte hipper Formationen (MGTM, Das Racist, Charilift u.a.) entwickelt hat. Und wohl auch aus der Verfassung dieser, unserer vernetzten und hybridisierten Poperde.
Warner Music
Bei Santigold rücken Kontinente und Herrschaftsverhältnisse zusammen oder krachen auseinander - je nachdem, zu welchen Prozentsatz man ihre Musik im globalisierten Wettlauf der Zeichen und Symbole zählt. Doch die professionellen Umstände, aus denen heraus Santi White diesen Weltgroove der Gegenwart collagiert, sind nicht weniger ausschlaggebend als ihre rhythmisierten Worte, Töne und Bilder.
Im Alter von 17 Jahren heuerte Santi White als Praktikantin bei einer Plattenfirma an und landete wenig später beim Sony-Ableger EPIC-Records. Über die Jahre hat sie sich einen Namen als A&R- und Marketing Managerin, Produzentin und Auftragsschreiberin gemacht, ehe sie selbst zum Mikrofon griff. White erlebte hautnah den radikalen Wandel der Industrie, sah Kollegen und Bands kommen und gehen und kultivierte in dieser Zeit womöglich auch die „tough cookie“ Schale, die man im Sound von Santigold findet.
„The industry helped me a lot“, sagt White beim Interview im Rahmen des South By Southwest Festivals in Austin, Texas über ihre Plattenfirmenzeit: “It helped me to understand, what the other side’s agenda is. It’s a business and they need to make money and I am a business too, I think as an artist that’s important to understand. But many don’t”.
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Und dann wäre da auch noch das ur-amerikanische Prinzip von “hard work”, das zähle. Vor allem unter den gegebenen Bedingungen des Musikschaffens: “Nowadays the music industry is very DIY. You have to make something out of nothing before you even get a shot. It’s the dilemma. No one will help you until you help yourself, but you can’t help yourself if no one helps you. So it’s this magical loophole you have to find yourself through before you have a shot. But it’s still possible”.
Master Of Our Make-Believe
Dass der Pop unserer Tage trotz seiner Transparenz im Internet noch immer eine Riesenillusionsmaschine ist, über deren Entstehungszusammenhänge immer weniger in die schnöde Außenwelt dringt, auch davon handelt das neue Album “Master Of My Make-Believe”. Die zwei großen Themen der Platte, Selbstbestimmung und Fame-Inismus, stehen dabei in unmittelbaren Zusammenhang und reflektieren auch den mühsamen Entstehungsprozess des Albums.
Santigold schlüpft bei Songs wie „Freak Like Me“, „Look At This Hoes“ oder „Fame“ in die Rolle der im Mainstream-Pop gerade sehr angesagten „Super Bitch“, die Stärke und Emanzipation über garstige Tabubrüche und die Aneignung einer prollig-derben Sprache weit jenseits der Errungenschaften einer Missy Elliot definiert.
Auch wenn Santigold in Interviews diesbezüglich gern die Karte allgemeiner Befindlichkeiten ausspielt. Es ist relativ klar, dass hier neben Offensichtlichkeiten wie Ke$ha oder der familienfreundlicheren Katy Perry auch Kolleginnen wie Lady Gaga oder Nicki Minaj angegangen werden, die wohl von der Industry-Insiderin wesentlich weniger selbstbestimmt und unangepasst gesehen werden, als es das öffentliche Image will. „Sitting pretty on the top watching all you want is money. Take over, take over“, skandiert sie in „Freak Like Me“ und verhöhnt auf “Look At This Hoes” den derben Materialismus des Hip Hop. Am Ende des Refrains zieht sie dann auch die vulgäre Knarre: „This bitches ain’t fucking with me, killa!“
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Diesen Rollenspielen fehlt die totale Übertreibung, der comic relief, die Pointe, die den Kern des Problems freilegt. Alles bleibt vage, allgemein und zweideutig. Vielleicht ist hier auch etwas Selbstbespiegelung im Spiel. Wenn sich White über den Retortenpop der aktuellen Charts und die mangelnde Kreativität seiner Protagonisten beschwert („on the radio you basically hear the same three top producers doing the same beats for the same songs“), dann macht das jemand, der selbst als hired gun Hits für durchsichtige Acts wie Ashlee Simpson oder Christina Augilera geschrieben hat.
Der Ärger über die Zustände im Potemkinschen Dorf scheint jedenfalls original. Der Kult um „Fame“ und „Celebrity“ als letzte Bastionen des Pop nerven sie gewaltig. „I don’t want to be famous. I want my songs to be famous“, sagt sie. Wieder so ein ambivalentes Statement. White hat erst kürzlich bei Jay-Zs Management Firma Roc Nation unterschrieben, also sozusagen beim Großvisier der Branche. Das macht man für gewöhnlich nicht, wenn man im stillen Kämmerchen werkeln will. Dessen Gattin nimmt White dann auch ausdrücklich aus von ihrem allgemeinen Diven-Diss.
Aber die Künstlerin Santigold hat auch so ihre Erfahrungen gemacht. Zunächst musste sie sich beim Albumdebüt „Santogold“ (2008) gegen die Vermarktungsbegehren als „urban“ (also schwarzer) „R&B-Artist“ zur Wehr setzen. Nach vier Jahren der Veröffentlichungsstille, einer Namensänderung aufgrund von Rechtsstreitigkeiten mit einem singenden Juwelier und diversen sozialen Engagements in den USA und Afrika versuchte die Plattenfirma White für das neue Album Ballermann-Produzenten wie David Guetta und die EDM-Clowns LMFEO zu verpflichten.
Santigold lehnte jedoch ab und setzte sich mit ihrer vertrauten Producer-Crew Diplo, Switch und John Hill nach Jamaica ab, wo auch das tolle Video zu „Disparate Youth“ entstanden ist. Da aber auch bei den drei Beatschnitzern plötzlich das verordnete Hit-Fieber ausbrach, hat Santigold beschlossen, für jeden Song eine eigene Hilfsschreiber-, Hilfsschreier- und Hilfsschrauber-Crew zusammenzusetzen. „That’s the best way I work anyhow“, sagt sie im Interview. “Everything I do is a collage. The music, the album cover, the choreography is the work of many people. Back in the day every rapper had his own DJ. So you had all these different sounds. My way, the modern way, is to create my own sound through many different ‘DJs’”.
Mit dabei am Album sind neben Switch, Diplo und John Hill, die dann doch bei einigen Nummern mitgemischt haben: Karen O. und Nick Zinner von den Yeah Yeah Yeahs, Hip Hop Guru Q-Tip, Greg Kurstin, Boyz Noize, Dave Sitek von TV On The Radio, Buraka Son Sistema und der junge Star-Producer Ricky Blaze. Doch ihrer Vision entsprechend tragen die Songs eindeutig Santigolds Handschrift. Ihr polyrhythmischer Agit-Pop-Stil erinnert noch am ehesten an jenen ihrer guten Freundin und früheren Bed-Stuy-Nachbarin M.I.A. mit starker Berücksichtigung US-amerikanischer Pop-Sensibilitäten.
Christian Lehner
Die Struggles in Bezug auf die Wahl der Produzenten und die Erwartungshaltung der Plattenfirma sind wohl die Ursache für den stark ausgeprägten Selbstbehauptungsdrang, der sich als zweites großes Thema bereits im Albumtitel manifestiert: „Master Of My Make-Believe“. „Dreams are ok, but you have to make them real as well. Don’t let anybody tell you how to see the world, make it your own world”, so Santigold. Dieses Sentiment findet sich in Songs wie „Disparate Youth“, „Go!“, „God From The Machine“ oder dem Slow-Jam „The Riot’s Gone“, wo sich die Erkenntnis einstellt, dass der alltägliche Überlebenskampf auf allen Ebenen die Revolution abgelöst hat. „Master Of My Make-Believe“ ist definitiv ein Fighter-Album, das im Zerfall des Sozialen die daraus entstandenen Unsicherheiten mit einer Multitude an Grooves, Beates und Zorn zu überwinden trachtet. Wahrlich ein Album zur Zeit.