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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

28. 4. 2012 - 13:01

Animier' mich, wenn du kannst!

"Alois Nebel" im Kino ist wie Graphic-Novel-Lesen für Bequeme. Und das ist als Kompliment zu verstehen.

Dem tschechischen Autor Jaroslav Rudiš begegnet man am Crossing Europe Festival fast täglich. Der Mann spricht ohne Punkt, aber mit Gedankenstrich, Begeisterung und Ausrufezeichen. Kaum hat man ihm zugehört, will man all seine Bücher auf einmal lesen.

Wie ein Sog gestaltet sich die Geschichte des "Alois Nebel", die Jaroslav Rudiš in Comicform erzählt. Am Crossing Europe Festival in Linz war ihre filmische Umsetzung nach "Crulic - The Path to Beyond" der zweite Höhepunkt der neuen Animationsschiene.

Zeichnung: Ein Mann steht mit einer Axt einem anderen Mann mit Pistole gegenüber

Crossing Europe

Zeitgeschichte spannend präsentiert

Halb Tscheche, halb Deutscher, überfällt Alois Nebel wieder und wieder die Erinnerung. In diesem seltsamen Nebel kommen Bilder hoch, die aus den großen Gewaltzeiten des 20. Jahrhunderts stammen. Auf Bahngleisen werden Menschen in Züge getrieben, eine junge Frau soll die nächste sein, und ein junger Mann will sie zurückhalten und retten. Er wird erschossen. Viele Jahre später tut Alois Nebel als Bahnwärter in einer kleinen Station Dienst.

Nicht im Bild, dafür aber für die Unterhaltung zentral: Der Ton! Laut regnet es in Bilder-Wäldern, und der Schuss aus einer gezeichneten Pistole lässt einen zusammenzucken.

Die düsteren Schwarz-Weiß-Bilder von Zeichner Jaromir 99 bergen wie die Hauptfigur Alois Nebel Geheimnisse, die sich nicht unmittelbar deuten lassen. Wie im Scherenschnitt kerben Licht und Schatten die Gestalten und Gegenstände. Jaroslav Rudiš erzählt eine wilde, spannende Geschichte, deren Kern die Vertreibung der Sudetendeutschen bildet. Thematisiert wird auch die russische Besetzung 1986, und die Wende 1989 erlebt Alois Nebel als arbeitslos Gestrandeter in einem Bahnhofsrestaurant. Regisseur Tomáš Luňák setzt die Graphic Novel in Bewegung. Fad wird einem dabei in keiner Minute.

Zwei Polizisten ringen einen Mann zu Boden, ein anderer sieht stumm zu.

Crossing Europe

Wochenweise ist in Tschechien ein Stück der Geschichte "Alois Nebel" nach dem anderen erschienen. Populär war die Graphic Novel, bevor sie gesamt vorlag. Jaroslav Rudiš, der Geschichte und Germanistik studierte und heute in Prag als freier Autor und Journalist lebt, wurde mit seinem Roman "Der Himmel unter Berlin" bekannt.

Alois Nebel steht auf einer Stiege auf einem großen Bahnhof.

Crossing Europe

Oral History - animiert

Bilderreigen kurzer Filme sind die Programme "Animated Documentary Shorts" und "Animated Reality Shorts". Doch die Unterscheidung will sich mir nicht gänzlich erschließen. Teilweise dient die Animation zur Bebilderung von Oral History. Für die persönliche Geschichte in historischen Ereignissen wird Raum geschaffen. Off-Stimmen erzählen von Verkehrsunfällen als dem einschneidenden und zentralen Erlebnis ("1989" von Thor Ochsner). Von einem, von Sehnsucht erfüllten Eheleben als Italienerin in Griechenland ("My Mother's Coat" von Marie Margaux Tsakiri-Scantovits).

Mit minimalem Stil, in Strichen, zeigt eine Zeichnung eine Szene sitzender Menschen

Marie Margaux Tsakiri-Scantovits

Große Reduktion: "My Mother's Coat".

"Animated Reality Shorts" laufen heute Samstag am Crossing Europe in Linz - ebenso wie
"Arrugas/Wrinkles", ein 90-minütiger Animationsfilm von Ignacio Ferreras.

Mitunter wurde die Kamera über Aquarellzeichnungen geschwenkt. Wunderbar gemacht ist "The Journey to Cap Verde": Sechzig Tage ohne Uhr, ohne Mobiltelefon und ohne vorgefassten Plan hat José Miguel Ribeiro erlebt. Den Ausnahmezustand Orgasmus ließ sich die britische Filmkünstlerin Ruth Lingford von zig Menschen beschreiben und erklären. Wie Schmerz und Linderung, wie Kaugummi mit süßester Sauce im Kern oder "a pleasure bomb, dropped in your body, deeper in clouds", sei der physische und emotionale Overflow - eine Straßenbahnstation in Riga möchte man beim Sex nicht unbedingt denken, aber auch das kommt in einem inneren Auge einer Befragten vor. Zu den tollen persönlichen Beschreibungen assoziiert Ruth Lingford munter diverse Stile. Die Idee zu "Little Deaths" erinnert an "Never like the first time!" von Jonas Odell.

Zu schade, dass man solche kleinen Meisterwerke höchstens in der Sechser-Packung bei Filmfestivals zu sehen bekommt.