Erstellt am: 26. 4. 2012 - 13:38 Uhr
Don't keep it simple
Crossing Europe Filmfestival, noch bis inklusive Sonntag in Linz.
101 Minuten unterschwellige Anspannung habe ich Ruben Östlund zu verdanken. Der schwedische Regisseur hat mit "Play" einen Film gemacht, der einen extrem clever in den Bann zieht. Zwischen 2006 und 2008 gelang es in Göteburg einer Gruppe junger Migranten im Alter zwischen zwölf und vierzehn Jahren, mehrere Kinder auszurauben. Das ist keine fiktive Geschichte, sondern das sind die realen Fälle, auf die die Handlung verweist. "Play" ist ein grandioser Psychothriller.
Ein Entkommen ist nur bedingt möglich. Das Bild beschränkt den Handlungsspielraum im doppelten Sinn. In den wenigsten Einstellungen bewegt sich die sonst fest positionierte Kamera in einem langsamen Schwenk. Unruhe verbreitet die Handlung. Im Shoppingcenter begegnen drei Buben einer Gruppe von fünf anderen. Mitten in einem Sneakers-Laden spielen die fünf schwarzen Buben Fußball, während die drei anderen Modelle anprobieren. Aufmerksamkeiten wandern und die Gruppe folgt den drei Freunden.
Darf ich Dein Handy anschauen?
Crossing Europe
Erst wollen die fünf Schwarzen nur mal kurz das Handy der Fremden anschauen. Sukzessive verwandelt sich das üble Spiel in einen Alptraum. Doch in den Bussen und Zügen nimmt kaum jemand Notiz von den angsterfüllten Bubengesichtern. Die fünf schwarzen Buben bequatschen, schikanieren und nehmen die drei Buben durch Drohungen in eine Geiselhaft, die nach außen unsichtbar bleibt.
Passanten bleiben stumme Zeugen und die Zivilcourage versagt. Kindliches Vertrauen und Gehorsam gegenüber Älteren sind die Fallen. Wie ein simpler Trick selbst Erwachsene paralysiert, beweist eine Szene der ersten Minuten. Eine Gruppe Peruaner panflötet und tanzt betörend in indigenem Federschmuck in einer Fußgängerzone. Schau einer weg.
"Play" erzählt, wie Menschen über andere Macht ergreifen, wie schnell das funktioniert und missbraucht wird. Und: "Play" führt dem Publikum vor, wie sehr negative wie positive Rassismen täuschen können. Wieviel wollen wir mit Verweis auf die Herkunft entschuldigen?
Crossing Europe
Ein Eindringling
Kurz spielt auch "L'Envahisseur" von Nicolas Provost mit Vorstellungen afrikanischer Migranten und gut situierter EuropäerInnen. Doch mit einem Close auf eine nackte weibliche Scham eröffnet für gewöhnlich kein moralisches Sozialdrama - Entwarnung. Provost zitiert Gustave Courbets Gemälde "Der Ursprung der Welt" und an einem FKK-Strand spült das Meer zwei afrikanische Flüchtlinge ans europäische Festland. Im realistischen Setting zwischen Elendsquartier der versklavten, sogenannten "Illegalen" und der weißen Upperclass entwickelt sich eine verhängnisvolle Affäre. "Der Eindringling" ist ein Psychothriller. Erneut taucht die Frage auf: Will man sich ein Schicksal tatsächlich durch die Sozialisation erklären?
Anders als "Play" beschäftigt einen "L'Envahisseur" nicht länger. "Schuld? Schuld ist der, der abdrückt!", sprach Sophie Rois unlängst in einer Folge von "Polizeiruf 110". Das wäre geklärt.
Crossing Europe
Reale Zustände
Kino erschließt einem Orte, die man andernfalls nicht ohne weiteres betreten kann oder will. Im Schwerpunkt "Transition Spaces - Nowhere Places" begibt sich das Crossing Europa cineastisch in fünf Dokumentionen in Durchgangsräume. Zum Beispiel in ein Schweizer Schubhaftgefängnis in "Vol Spécial".
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Yay! Dokus sehen heutzutage schon verdammt gut aus. Da muss niemand mehr seekrank den Kinosaal verlassen. Drängt sich die Frage in den Vordergrund: Ist das tatsächlich ein Dokument oder inszeniert? Glaubwürdigkeit lieferte zu lange die Handkamera.
Das hat System
Regisseur Fernand Melgar zeigt Abschiebungen so nah, dass man für Minuten meinen könnte, einen Spielfilm zu sehen. Doch die Protagonisten in "Vol Spécial" geben nicht die Asylwerber, die der Schweizer Staat nicht in seinem Land haben will - sie sind es.
Personen ohne Aufenthaltsbewilligung kommen in der Schweiz in Schubhaft, die bis zu zwei Jahre dauern kann, erklärt ein Insert zu Beginn. Die Haft präsentiert sich in "Vol Spécial" wie jene rechtskräftig verurteilter Straftäter - bis auf kleine Details. Der Hof zum Freigang erlaubt die Kontaktaufnahme mit Menschen außerhalb des Zauns, ein zehnminütiges "Good-bye" tolerieren die Beamten. Sie sind es, deren Lebenswelten einen weitaus mehr interessieren würden, als die Momentaufnahmen von Männern aus aller Herren Länder, die für Monate eine imaginierte Schicksalsgemeinschaft bilden.
Der Afrikaner Serge will noch schnell das Geschirr abwaschen, als ein Beamter seitlich hinter ihn tritt und ihm die Hand auf die Schulter legt. Er hätte Neuigkeiten mit ihm zu besprechen, erklärt der Beamte.
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Seitenwechsel
Die Vorwürfe der inhaftierten Asylwerber in "Vol Spécial", wie Kriminelle behandelt zu werden, und all ihre Argumente - ihre Kinder in der Schweiz und vorgelegte Steuerpapiere - prallen rasch ab. Nicht nur an den Behörden, auch an einem selbst als ZuschauerIn. Ein kluger dramaturgischer Schachzug. Im Übergangsort Schubhaft ist kein Platz für längere persönliche Bindungen.
Doch in den kurzen Sequenzen mit den Teambesprechungen der Beamten offenbaren sich die zwischenmenschlichen Herausforderungen der täglichen Amtshandlungen. Hier müsste der nächste Film fortsetzen und verweilen. Die Befürchtungen der Beamten, ob der jeweilige Abschiebetag tatsächlich so ruhig verlaufen wird wie besprochen, unterbricht ein Wunsch: Serge erklärt am Samstag, dass er nur mit gewaschenen Kleidern das Land am Sonntag verlassen werde. Es gibt eine hauseigene Wäscherei.
Bewusst wird die Bedrohung einer Existenz erst, als ein Afrikaner in Gewahrsam der Behörden zu Tode kommt.
Mündig
Das sind einmal drei Filme mit einer wichtigen Gemeinsamkeit: Hier werfen Regisseure Fragen zu Macht auf, ohne das bewährte, doch billige Muster Mitleid zu bedienen. Das kann was.
Später heute dann: Tanzen! Darf und muss auch mal sein. Das OK Mediendeck leuchtet jede Nacht einladend. Die Crossing Europe Nightline ist nicht zu übersehen. Morgen Abend spielen Elektro Guzzi.