Erstellt am: 25. 4. 2012 - 10:20 Uhr
Wieviele Filme hat dein Tag?
Crossing Europe Filmfestival, 24. bis 29. April, Linz
d.signwerk.com / Foto: Gerhard Wasserbauer
Den Silberblick des jungen Mannes vom diesjährigen Crossing Europe-Sujet werden wir auch haben, nach den kommenden sechs Kinotagen. Denke ich. Und weiter, dass das ja ziemlich sexy sein kann. Und schon eröffnet Intendantin Christine Dollhofer das Festival für eigenwilliges und zeitgenössisches AutorInnenkino aus Europa.
Im neuen OÖ Kulturquartier in Linz sitzen 120 internationale Filmgäste und dazu LinzerInnen, die einen verlegen machen können. Kaum angekommen, hat mir jemand ungefragt einen Stadtplan geschenkt. "Here to conquer!" könnten Menschen in Drehbüchern kontern. 146 Spiel- und Dokumentarfilme aus 43 Ländern vermessen bei Crossing Europe den Kontinent auf ihre Weise. Von isländischen Gangstern zu russischen Krankenschwestern bedarf es nur des Wechsels von einem Kinosaal in den nächsten.
"Gibt es ein Leben nach dem Film?" fragt das T-Shirt unter dem Sakko eines Herrn, "That was it" schließt ein Stoffbeutel wenige Reihen weiter eine Analogie zum Debütalbum der Strokes, aber jetzt geht es doch erst los! Mit einem kurzen Werbespot?
Ja, der Festivaltrailer ist doppelte Werbung - für Crossing Europe und für den Hauptsponsor. Das kann man durchaus mal gut finden. Das Budget ist ein wiederkehrendes, doch stets knapp gehaltenes Thema der Eröffnung (Wie die Diagonale hat Crossing Europe einen zentralen Sponsor verloren). "Eine Aufstockung hätten wir uns verdient und auch sehr nötig", sagt Festivalintendantin Christine Dollhofer mit einladender Freundlichkeit.
Empfehlungen für heute und morgen!
Wo anfangen? Persönliche Empfehlungen für heute: in einen französischen Supermarkt mit "Les Fraises de Bois" von Dominique Choisy und in die russische Bahn mit "Elena" von Andrei Zvagintsev.
Drei junge Schauspielerinnen begrüßt Christine Dollhofer wenig später bei sich auf der Bühne. "You are huge! Austrians are small, very small!" Die Schwedin Linda Molin hebt gespielt einen Fuß und verweist mit dem Blick auf ihre Absätze. Wie könnte man Filme gekonnter teasern - ohne Trailer - als mit ihren HauptdarstellerInnen?
Crossing Europe
Anjela Nedyalkova, Anabela Moreira und Linda Molin haben zudem Humor und was zu sagen. Es folgen: Drei Empfehlungen für heute bzw. morgen.
"It's about a girl who- just see the movie!" beendet Linda Molin ihre Beschreibung der Coming-of-age-Geschichte "Apflickorna" (Regie: Lisa Aschan; englischer Titel: "She Monkeys"). Im Reitverein lernt die 15jährige Emma Cassandra kennen und kommt bald nicht mehr klar mit den physischen und psychischen Herausforderungen, die ihr diese anfängliche Freundschaft stellt. "Bitch hug" wird Molins nächster Film heißen: "It's like a bitch slap but a hug".
Crossing Europe
Schlagfertig ist Anjela Nedyalkova. "Some TV series said: Come on! I said: No! No! I need art!" Darum hat die Hauptdarstellerin von "Avé" nun begonnen, an eigenen Projekten zu arbeiten. Im Roadmovie "Avé" vom bulgarischen Regisseur Konstanting Bojanov ist sie unterwegs in diesem wunderbaren Ausnahmezustand, in dem "Zeit keine Bedeutung hat und die eigene Verantwortung einzig dem Herzschlag folgt". So sagt es der Regisseur.
Crossing Europe
Kokettieren, posieren und dann Satz und Sieg. "Now I am going to be in all of his movies!", fasst Anabela Moreira die Zusammenarbeit mit dem portugiesischen Regisseur João Canijo kurz. Nachsatz: "It is quite cruel to put us in one place to play". Was man sich darunter vorstellen kann, wird im Familiendrama "Sangue do meu Sangue" klar. Mutterliebe versus die Liebe der Tochter zu einem verheirateten Mann ist gleich Krach.
Crossing Europe zeigt freilich auch Dokumentarfilme. Und zwar ästhetisch herausragende: In der neuen Programmschiene "It's animated!" laufen "Animated Documentary Shorts". Am ersten Abend des Festivals war einer der vier Eröffnungsfilme der Langfilm "Crulic", der auch als "Animated Documentary" eingeordnet werden könnte.
Grenzen der Darstellbarkeit überwinden
"I always say: If you did a trilogy you can stop!" - Anca Damian im Gespräch mit FM4-Filmredakteurin Erika Koriska: 26. April, FM4 Update.
Die rumänische Filmmacherin Anca Damian rekonstruiert in ihrem ersten Animationsfilm "Crulic - The Path to Beyond" die Lebensgeschichte von Claudiu Crulic. Der 33jährige Rumäne wurde 2007 in Polen zu Unrecht eingesperrt. Um auf seinen Fall aufmerksam zu machen, begann er in einen Hungerstreik. Aber die Behörden und Gefängnisärzte reagierten viel zu spät.
Aparte Film
Wie Anca Damian diese, von einer realen Geschichte inspirierte Handlung in Szene setzt, ist beeindruckend und zugleich packend. In Aquarellzeichnungen treten animierte Figuren, Fotografien und reale Gegenstände kommen hinzu und die Perspektiven wachsen über den Strichmännchenhorizont hinaus, dem man so manchem Spielfilm vorwerfen könnte.
Betroffenheit ist noch kein Indiz für Qualität. Aber wenn Nebensitzende hörbar schlucken, wenn sich auf der Leinwand die Umrisse einer gezeichneten Figur in Embryohaltung in einer Gefängniszelle krümmen, hat jemand ein Werk geschaffen.
Crossing Europe
Fünf Menschen waren im Team für das Artwork und die Animationen in "Crulic - The Path to Beyond". Anca Damian weiß, dass sie gemeinsam die Techniken der 2D-Animation ausgeschöpft haben. Man könne den Film als Lehrstück für Animation ansehen. Didaktisch kommt er aber so gar nicht rüber. Die gerichtlich beantragte Menschenrechtsverletzung und das Martyrium, wenn Körper und Geist aufgrund Nahrungsentzug Tag für Tag verfallen - das wäre in einer Dokumentation unerträglich. Animationsfilm erlaubt Freiheiten und schafft Möglichkeiten, die Grenzen der Darstellbarkeit erweitern. All die kleinen wunderbaren Ideen in der Umsetzung machen die Geschichte unterhaltsam.
Anca Damian und ihren Filmen, die mehrheitlich am Schauplatz Gefängnis spielen, zollt Crossing Europe das diesjährige Tribut.
Des Nächtens: Schaudern
"It is rewarding to step over your fears!", gibt Anca Damian ihren ZuschauerInnen mit auf den Weg hinaus aus dem Movie 1. Ein Stichwort! Und ich eile zur Kinokassa und bekomme gerade noch einen Wartelistenplatz für "Hell". Viele wollen zu später Stunde in die Post-Apokalypse. Slash Filmfestival-Kurator, Crossing Europe-Eröffnungs-Ko-Moderator und FM4-Filmkritiker Markus Keuschnigg hat die Sektion "Nachtsicht" erneut programmiert: Genrekino aus ganz Europa, das einen gruselt und die Härchen auf den Unterarmen aufzieht.
Mit "Hell" hat der Regisseur Tim Fehlbaum einen Flop an den deutschen Kinokassen geschafft, der Kurator Markus Keuschnigg allerdings keineswegs abgeschreckt hat. Die diesjährige Auswahl sei vergleichsweise "zahm", versichert Markus. In der staubtrockenen, gelben Welt von "Hell" geht es dann auch ziemlich lange recht passabel zu - immerhin warnt ein Insert zu Beginn: Die Welt, wie wir sie kennen, ist 2016 nicht mehr. Die Temperaturen stiegen um zehn Grad an, soziale Gefüge zerbrachen. Warum, hat uns nicht weiter zu interessieren.
Caligari Film GmbH
Nachtsicht, nicht Nachsicht
Tierkadaver hier, Autowracks da und mittendrin vier der begehrtesten deutschen DarstellerInnen jüngeren Alters unterwegs auf der Suche nach Wasser und Benzin. Freilich im Auto: Hannah Herzsprung, Stipe "der Checker" Erceg und Lisa Vicari sowie Lars Eidinger. Letzteren erkennt man erst nach etlichen Minuten aus "Alle anderen" wieder. Ungefähr bei Minute dreißig ahnt man auch, dass das Staraufgebot leider keine Mutationen erfahren wird. Die Zombies bleiben fern und die Handlung konstant vorhersehbar.
Wie einst in "Die kommenden Tage" retten sich die Überlebenden des europäischen Abendlands auf die Alm. In einer Kapelle reicht eine Mutterfigur der dehydrierten, doch insgesamt souveränen Marie Wasser in der Milchglasflasche. Und zack wird das vor Metaphern schielende Bild gedreht. Wir schreiben eine Stunde Laufzeit, der Horror setzt ein.
Insgeheim ist einem das nur recht und in letzter Möglichkeit von Autor und Regisseur Fehlbaum konsequent. Denn das Gedankenspiel, wie man überlebt, wenn der Konsumkosmos zusammenbricht und kein Wasser mehr aus der Leitung und schon gar nicht in Bächen fließt, wurde bis dahin ausgiebig und brav durchexerziert. Wie in einem dieser "Survival Guides", in denen Graphiken erklären, wie man sich aus Fesseln befreit.
Um welche Uhrzeit lässt der Kopf mehr Gruseln zu? Bis inklusive 29. April vormittag ist jeweils um elf Uhr vormittags und 22:45 ist Zeit für "Nachtsicht": Filme des Fachbereichs Horror und Thriller bei Crossing Europe.
"Wir haben doch kein Vieh mehr". Fällt dieser Satz auf einem abgelegenen Bergbauernhof mitten in Wäldern, bitten die Gebrüder Grimm um Saaleinlass und die Magengrube zieht sich zusammen. Schließlich ist Maries kleine Schwester verschwunden. Grauslich wird das Grand Finale.
Allein für die Geschichte, die Tim Fehlbaum erzählt, hätte er einen nicht auf die Fährte Endzeit locken müssen. Menschen jagen Menschen, da muss ihnen die Natur erst gar nicht übel mitspielen. Vielleicht lag es aber auch am gelb- bis grünstichig getünchten Bild, dass "Hell" mich nicht geschockt hat: Wenn gespucktes Blut gar nicht rot ist, kann's nicht so schlimm werden, oder?