Erstellt am: 27. 4. 2012 - 15:56 Uhr
Retrofrischer Kerkermeister
Es ist gefährlich, seine Kindheitserinnerungen im späteren Leben erneut zu besuchen. Das Buch, der Film, die Platte, das Spiel aus der Kindheit, an das man sich in den glühendsten Farben der Verklärung gerne zurückerinnert, zeigt sich bei einem späteren - viel späteren - Besuch oft in anderem Licht. Adieu, Prinzessin Fantaghiro - als ich zwölf war, sind mir dein unterirdisches Schauspiel, Föhnfrisur und Peinlichkeit nicht derart aufgefallen. Tschüss, MacGyver und Barbapapas, drei ??? und EAV: So war das damals, aber das ist lange her.
Es ist ein erstes Zeichen, dass man echt alt wird, wenn man beginnt, die eigene Kindheit zu verklären. In sentimental-picksüßen Wellen überrollen uns die großen nostalgischen Recyclingwellen der Popkultur, und Retro ist sowieso immer brandneu.
Es braucht schon ein messerscharfes Gespür und unsentimentalen Mut zur Amputation, um die alten Geister ohne Kitsch so frisch wie nie auferstehen zu lassen. "Legend of Grimrock" schafft diesen Spagat zwischen Nostalgie und Gegenwartsrelevanz souverän.
Kerkermeister aus den 80ern
FTL
"Dungeon Crawler" sind ein spezielles Untergenre der Rollenspiele, in denen der Spieler hauptsächlich unterirdisch gegen Monster kämpft. Neben "Dungeon Master" zählen auch die "Eye of the Beholder"-Serie sowie die meisten Roguelikes dazu.
1987 erschien "Dungeon Master", und bis heute glänzen die Augen all jener, die mit diesem Namen etwas anfangen. Das 3D-Rollenspiel für Atari ST (später auch für andere Systeme) ließ seine Spieler schrittweise einen düsteren Fantasy-Kerker samt in Echtzeit angreifenden Monstern erforschen. Die vier Independent-Entwickler des finnischen Studios Almost Human haben mit "Legend of Grimrock" eine Hommage an das Genre des Dungeon Crawlers, aber auch an "Dungeon Master" selbst erschaffen - und im Gegensatz zum ernüchternden Wiederbesuch der alten Helden von damals zeigt die Neuauflage, dass das solide Spielkonzept auch im 21. Jahrhundert noch perfekt funktioniert.
Almost Human
Mit einer Gruppe von vier Helden landet man im riesigen Labyrinth des Berges Grimrock, und der Ausgang ist irgendwo ganz unten. Die vier Mitglieder unserer aus Fantasy-Standards rekrutierten oder selbst gebastelten Truppe bewegen sich sozusagen im Trupp gemeinsam; in der ersten Reihe stehen bestenfalls zwei Nahkämpfer, die zweite Reihe ist mit Fernkämpfern und Zauberern ideal besetzt. Der größte Unterschied zu heutigen Spielgewohnheiten ist die - damals technisch bedingte - Beschränkung des Bewegungsfreiraums: Es gibt keine freie Kamerabewegung, sondern nur Drehungen im 90-Grad-Winkel, und das Labyrinthraster wird schrittweise, Feld für Feld erforscht.
Was antiquiert klingt - und von Klassikern wie "Ultima Underworld" durch technische Verfeinerung bis hin zu "Wolfenstein 3D" und zum First-Person-Shooter weiterentwickelt wurde -, erweist sich 2012 als erfrischend anders. Schnell ist die Bewegungseinschränkung vergessen und es wird klar, was hier die Hauptrolle spielt: das Design einer herausfordernden, mit Liebe zum Detail erstellten Spielwelt.
Neue, alte Härte
"Legend of Grimrock" reanimiert aber nicht nur die Spielmechanik vergangener Tage, sondern bleibt auch einem Trend treu, der sich in Independentkreisen wachsender Beliebtheit erfreut: Hier wird man nicht an der Hand genommen, hier gibt es keine "casual-freundlichen" Feelgood-Herausforderungen. "Legend of Grimrock" fordert sowohl in seinen kniffligen Rätseln als auch durch seine erbarmungslosen Gegner eine gewisse Ernsthaftigkeit und Hartnäckigkeit von seinen Spielern, wie sie heute, in Zeiten weichgespülter Schwierigkeitsgrade, selten sind. Keine Angst: An den Masochismusgrad von "Super Meat Boy" oder "Dark Souls" kommt das Kerkerabenteuer nicht heran, doch den "Game Over"-Screen bekommt man durchaus häufiger zu sehen als anderswo.
Almost Human
"Legend of Grimrock" ist für PC für 12,59€ erschienen. Eine Mac- und eine iOS-Version sind in Planung.
Es ist spannend, wie die vermeintlichen Einschränkungen des Spieldesigns aus den 80er Jahren hier frischen Wind ins Rollenspiel-Genre des 21. Jahrhunderts bringen: "Legend of Grimrock" hat keine freie Welt und AI-Bewohner wie "Skyrim" oder "Fallout", keine hintergründige Story mit Entscheidungsmöglichkeiten wie "Mass Effect", keine Fülle an sammelbaren Gegenständen und Skilltrees wie "Diablo". Stattdessen gibt es ausgeklügelte Irrgärten, beeindruckend innovative Rätsel und harte, aber faire Echtzeit-Kämpfe, die Fingerspitzengefühl und Taktik erfordern. Grafisch ist "Legend of Grimrock" sowieso auf der Höhe der Zeit, doch es sind die Atmosphäre, die erstaunlich frisch gebliebene Spielmechanik und die Liebe zum Detail, die den Kerker-Trip zu mehr als einer Übung in Sachen Computerspielgeschichte werden lassen - auch für all jene, die "Dungeon Master" nicht kennen.
Conny Lee über "Legend of Grimrock", heute in FM4 Connected
Alles nur Nostalgie? Ganz und gar nicht. "Legend of Grimrock" ist in etwa wie das auf dem Dachboden gefundene und neu geschliffene Rasiermesser des Großvaters: Klar ist dieses kein moderner Hightech-Nassrasierer mit Dreifachblatt und Feuchtigkeitsstreifen - aber dafür ist es verdammt scharf.
Und das ist eigentlich alles, was man braucht.