Erstellt am: 24. 4. 2012 - 11:46 Uhr
Draußen ist feindlich
Ich bin ja skeptisch, ob sich in der wirklichen Welt tatsächlich viel verändert hat. Storys von gemobbten Kindern und von auf dem Schulhof kursierenden Handyvideos voller unerträglicher Erniedrigungen deuten in eine gegenteilige Richtung.
Im Filmuniversum, in dem wir uns hier bewegen und auch im Fernsehreich der atemberaubenden Qualitätsserien fand dagegen längst eine Revolution statt. Die Freaks und Geeks, die Highschool-Outcasts und Sonderlinge, eroberten das Rampenlicht. Man muss im spannenden Gegenwartskino schon länger suchen, um Streifen zu finden, in denen den jugendlichen Hauptcharakteren kein verschrobenes Eigenbrötlertum anhaftet.
In "The Girl With The Dragon Tattoo" fieberten die Massen mit einer hochgradig asozialen Hackerin mit. "The Hunger Games", der erfolgreichste Blockbuster unserer Tage, erzählt von einem Mädchen als Außenseiterin, das zur Zukunftsheldin mutiert. Und auch in "Hanna" wirkte die Titelfigur nicht wie von dieser konformistischen Welt. Gar nicht zu reden natürlich von all den Legionen einzelgängerischer Buben, die durch sensible Indiestreifen stolpern. Oder durch die unzähligen Komödien, vornehmlich solche des Produzenten Judd Apatow, der sich auf freaky Figuren spezialisiert hat.
So sehr haben sich die Außenseiter schon ins Zentrum vieler Geschichten gedrängt, dass clevere Streifen wie der kommende Highschool-Klamauk "21 Jump Street" die Rollen bereits umdrehen. Der hübsche Sportstyp wird darin zum Geächteten, während der tollpatschige Geek zu den populärsten Schülern mutiert.
Centfox
Supergeeks mit Wackelkamera
"It’s cool to be a nerd now" bringt es Andrew Garfield, der zukünftige "The Amazing Spider-Man", in einem Interview auf den Punkt. Genau deshalb werde seine Rolle des Peter Parker in dem kommenden 3D-Update maßgeblich verändert, vom höflichen Schüchterling zum einsamen Wolf mit rebellischen Tendenzen.
Das Comic-Kino abseits der bombastischen Blockbuster reagierte schon früher auf die von Hollywood ausgelöste Umwertung der Werte. Seit einigen Jahren bereits werden einschlägige Geek-Klischees von diversen Filmemachern parodiert, aufs Korn genommen oder unterwandert. Bösartige Komödien wie "Kick-Ass" oder "Super" zerfetzen den Mythos von blassen Durchschnittskerlen, die sich in kostümierte Rächer verwandeln, brutal in Stücke.
"Chronicle" ist nun auch so ein Film, der die festgefahrenen geeky Superhelden-Stereotypen durcheinander wirbelt. Aber auf ganz andere Weise. Ohne bissige Ironie oder clevere Referenzen. Der 26-jährige Regiedebütant Josh Trank versucht das Thema im Gegenteil so realistisch wie nur möglich aufzurollen.
Wenn es im Gegenwartskino um maximale Wirklichkeitsnähe geht, ist die Wackelkamera nicht weit. Nach dem Tod der Dogma-Bewegung sind Fake-Dokumentationen vor allem im Horrorbereich beliebt, um dort ein Höchstmaß an gruseligem Realismus zu suggerieren, vom "Blair Witch Project" bis zur "Paranormal Activity"-Reihe. Josh Trank verpackt in "Chronicle" jetzt die Story dreier Collegeboys, die spezielle Fähigkeiten entwickeln, in ein zittriges Found-Footage-Drama.
Centfox
Science-Fiction-Epos in Youtube-Ästhetik
"Heroes" meets "Cloverfield" könnte der Pitch lauten. Im Mittelpunkt steht zunächst der junge Andrew (Dane DeHaan), ein Bilderbuch-Eigenbrötler, der seinen trostlosen Alltag zwischen schwerkranker Mutter, Alkoholiker-Vater und Schul-Mobbing mit einer Videokamera festhält. Als er von zwei Klassenkameraden (Alex Russell, Michael B. Jordan) überredet wird, in einen geheimnisvollen Schacht im Wald zu klettern, richtet die dortige Strahlung seltsames mit den Burschen an.
Beinahe in Marvel-Manier verwandeln sich die Protagonisten durch die möglicherweise außerirdischen Einflüsse in Superwesen. So heldenhaft wie in den Bildergeschichten geht es in "Chronicle" aber nicht zu. Vor allem Andrew ist von seiner neuen Macht verwirrt und überwältigt. Als seine beiden Kumpane beschließen "Gutes" zu tun, spaltet er sich schließlich von ihnen ab.
Dass die Auseinandersetzung zwischen den Figuren in einen Konflikt mündet, der von einem konservativen Comicautor stammen könnte, ist eine der Schwächen des vorab von Fanboys gehypten Films. Die Idee, ein Science-Fiction-Epos in eine grobkörnige Youtube-Ästhetik zu verpacken, hält auch nicht auf voller Länge.
Sehenswert ist das Genre-Experiment aber dennoch. Wenn die nervöse Handkamera die Jugendlichen bei ersten Flugversuchen oder beim gemeinsamen Kräftemessen hautnah beobachtet, dann gelingen Josh Trank und seinem Twentysomething-Team bestechende Momente.
ABC Film
Keine Flucht ist möglich
Noch ungleich ernsthafter nähert sich ein anderer Film, der demnächst in ausgewählten Programmkinos anläuft, dem Motiv des jugendlichen Nonkonformistentums. In dem Indiethriller "Martha Marcy May Marlene" fehlt jegliche Plakativität, die durch die bisher erwähnten Streifen geistert.
Regisseur Sean Durkin, ein weiterer Newcomer, von dem man noch viel hören wird, erzählt von einer jungen Frau (die faszinierende Elizabeth Olsen), die aus einer sektenhaften Landkommune flieht. Verstört kontaktiert sie ihre ältere Schwester, die Martha auch in ihrem schicken Wochenendhaus aufnimmt. Verschwiegen lebt das Mädchen dort in den Tag hinein, verbale Annäherungsversuche wiegelt sie zumeist ab.
Doch die zwei Jahre unter der Obhut des hippiesken Kommunenführers Patrick (John Hawkes) und dessen sexuelle Nötigungen lassen sich nicht verdrängen. Martha wird beherrscht von teils bedrohlich körperlichen Erinnerungen an die Zeit in der abgeschirmten Ersatzfamilie, Panikattacken und Halluzinationen lassen ihr keine Ruhe.
"Martha Marcy May Marlene" - der Titel spielt auf die Sektennamen der Hauptfigur an - ist weit weg von üblichen Außenseiterfantasien. Der Film denunziert die ländliche Community nicht in schrillen Bildern, wie man sie aus einschlägigen Kultschockern kennt. Im Gegenzug idealisiert er auch das Haus der wohlhabenden Schwester nicht als Fluchtort. Wenn Martha aber irgendwann dämmert, dass gar kein Ausbruch möglich ist, weder bei der Subkultur-Sekte noch im chicen Bobohaus, dann schnürt sich vielleicht auch manchem Zuseher die Kehle zu. Ein hypnotischer Film der schleichenden Beklemmung, in dem sich vermeintliche Rückzugsgebiete als Fallen erweisen.
ABC Film