Erstellt am: 13. 5. 2012 - 15:40 Uhr
"Beim Anblick des Bildes vom Wolf"
"Du bist so ein fiction victim.
Yipp."*
Von Kathrin Rögglas "Wir schlafen nicht" zu Angelika Reitzers "Frauen in Vasen", wie sehr wurden die jungen, schönen, müden Menschen seit beinahe einem Jahrzehnt nun beschrieben, die für ihre Arbeit fast alles tun. Ja, "Wir nennen es Arbeit". Und in diesen Rollen und ProtagonistInnen konnte sich der eine oder andere insgeheim wiederfinden. Schön und traurig war diese Literatur und aufgeladen von Innenleben.
Jörg Albrecht, 1981 geboren, lebt in Berlin. Studiert hat er Komparatistik, Geschichte, Literatur und Theaterwissenschaft. Nach "Drei Herzen" und "Sternstaub, Goldfunk, Silberstreif" ist "Beim Anblick des Bildes vom Wolf" sein dritter Roman. Albrecht macht Theaterstücke mit "copy&waste". Und Videos wie dieses.
Statt Rückzug heißt die Devise nun Angriff. Jetzt kommt Jörg Albrecht und zieht in seinem Roman "Beim Anblick des Bildes vom Wolf" eine Blutspur durch die Kreativbüros einer Stadt. Ob diese Stadt nun Wien oder Berlin, Stockholm, New York oder Graz ist - in einer wunderbaren Passage gehen Straßenzüge ineinander über. Werwölfe sind jedenfalls unterwegs oder ist das doch nur virales Marketing? Mit Thies und seiner Exfreundin Wanda, den Zwillingen Jonte und Pelle und Freund Jasper betritt man die Orte, wo es sich abspielt, und gerät nah an Tatorte.
Während draußen Werwölfe ihre Zähne fletschen, will Jasper seinen Diplomfilm - natürlich mit Werwölfen - fertigstellen. "Die Geschichte einer sexuellen Befreiung, die Geschichte einer Protestbewegung, sagte Jasper gestern, das alles wird unser Film erzählen, aber irgendetwas fehlt."
Bent Fjolk
"Don't blame the Slayer"
In Graz verbrachte Jörg Albrecht ein Jahr als Stadtschreiber. Das "Jakominiviertel" hat es mit seinem roten Granulat-Teppich ins Buch geschafft. "Hippe Nachbarn, am besten Künstler oder schwul oder beides, und davon einfach ein paar zusammendrängen in einem Viertel, und schon kannst du aufatmen: Nein, du wirst nicht so werden wie Detroit, DU nicht! Und dafür brauchst du Geschichten."
"Beim Anblick des Bildes vom Wolf" ist ein Lesevergnügen. Es ist verdammt lustig. Und das nicht nur, weil sich Jörg Albrecht alles herausnimmt und nichts auslässt, was zwischen Selbstinszenierung, Hartz IV und einer Jugend in der Provinz möglich ist. Dabei verhandelt er Lebensentwürfe, Scheitern, Existenzängste und branchenübliche Verhältnisse wie kaum einer vor ihm: Theorien und Diskurse sind bekannt. "Also: ein neues Projekt. Wie immer. Wie immer kommt doch ein Projekt, ja, bei mir ist jetzt immer Projektwoche."
Von den Auswirkungen prekärer Erwerbsarbeit hin zu den privaten Beziehungen, dem permanenten Bemühen um ein perfektes Bild zu Abwehrmanövern erschöpfter Körper. Davon braucht einem keiner mehr zu erzählen, viel mehr sind wir mittendrin. Mit Thies und seinen Freunden, die ihre Neunziger-Jugend liebten und die Bikini Kill Songs heute aus Geschäften treiben. Du süße Melancholie.
Der Indie-Gedanke der Neunziger Jahre hinterließ bei den Protagonisten, den vier Freunden und Thies langfristigen Eindruck; "und dann noch eine andere Angst, nämlich die, dass alles, was seine Freunde und er sich vorstellen, diese ganz andere Gesellschaft, emanzipiert, freiheitlich, demokratisch, in ein paar Jahrzehnten nur noch brachliegen wird. Es wird diese Gesellschaft geben, aber nicht für lange?"
In dieser Deutlichkeit und mit all diesen Querverweisen zu Pop und Kultur hat das noch niemand offengelegt. Die Selbstverwirklichung als eigenes politisches Programm ohne Lobby, die das Leben weichzeichnet, damit es freier erscheint als das Leben der Eltern, und das Streben nach Sichtbarkeit und deren Macht begegnen einem in all ihren Facetten.
Dieser Roman ist böse, so, dass es einen kurz sticht, weil einen da einer möglicherweise ertappt hat. Da hält einem buchstäblich einer das Display seines Smartphones vor das Gesicht, indem sich Umrisse spiegeln. Doch selbst, wenn die Werwölfe reißen und der Konsum des Bio-Espressos im Co-Working-Betahaus den Kleinbauern in Äthiopien auch noch die Eröffnung eines Cafés ermöglicht, geht der liebevolle Blick nicht verloren. Albrecht gibt seine Figuren nie der Lächerlichkeit preis.
Wallstein Verlag
"Beim Anblick des Bildes vom Wolf" von Jörg Albrecht ist im Wallstein Verlag erschienen.
Schließlich steckt ganz viel Liebe in dieser dichten Kalkulation, die Neoliberalismus und individuellen Freiheitswunsch addiert. Liebe, die der Autor und Theatermacher Jörg Albrecht für Film und Serien hat und die seine Romanfigur Thies für einen Schauspieler - oder ist er doch nur Starbucks-Kaffeeverkäufer? - hegt. "Diese ganzen Liebesgeschichten, mit denen man zugespamt wird, wenn man ins Kino fährt. Und das Herz verschiebt sich. Nenn mich Herzverschieber." Bloß wie löst man das Problem der Synchronisation?
Nenn' ihn Raumöffner
Dieser Jörg Albrecht öffnet mit Sätzen neue Räume. Von einer Erzählebene kippt man in die nächste, ohne zu stoppen und aus der Geschichte zu fallen und das alles doch zu irreal zu finden. Nicht zuletzt ist sein dritter Roman ein Lesestoff für Cineasten. Neben Verneigungen vor Werwolf-Trash-Kult ist es vor allem Albrechts Stil, der Regieanweisungen und literarisches Erzählen fusioniert und einen besonderen Reiz hat.
Interviewpassagen, in denen Menschen aus dem Kunst- und Kreativbereich über sich sprechen und höchst persönlich Bilanz ziehen, unterbrechen die Romanhandlung.
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"Seit ich dich gesehen habe, passiert mir jedenfalls ständig so was. Dass die Räume immer mehr sein wollen, als sie sind."
Albrechts Spiel mit Sprache ist gar keines. Es sind vielmehr punktgenaue Analysen, die man mit Bleistift-Strichen am Seitenrand markieren will. Doch das reicht nicht. Der Vampir in dir wird sie weiter twittern.