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21. 4. 2012 - 10:00

Radioaktivitäts-Messung selbstgemacht

Das als Folge der Atomkatastrophe von Fukushima entstandene Netzwerk Safecast ermöglicht Menschen, eigene Geigerzähler zu bauen, sie zu vernetzen und die Daten online auszuwerten.

Die Nuklearkatastrophe von Fukushima gilt neben jener von Tschernobyl als schwerwiegendster Atomunfall der Geschichte. Die Unfallserie lief gleichzeitig in vier von sechs Reaktorblöcken ab und ist auch nach über einem Jahr noch nicht vorbei. Geschmolzene Brennelemente fressen sich langsam durch Böden von Reaktorbehältern in das Erdreich, während Kraftwerkseigentümerin Tokyo Electric Power Company (TEPCO) von "kalter Abschaltung" spricht.

Tausendfach höhere Messwerte

Fast jeden Tag werden neue, teils überraschende Details bekannt. Erst letzte Woche musste TEPCO eingestehen, dass nur noch 16 von 32 Temperatur-Messgeräten in den Reaktorgebäuden funktionsfähig sind. Diese Woche wurde eingestanden, dass vor Monaten eine 32 Tonnen schwere Maschine in einen der Reaktorblöcke "gefallen" war, ohne dass man dies bemerkt hätte. Dort, wo Messwerte aus dem Inneren des Kraftwerks verfügbar sind, sind sie im April 2012 teilweise tausendfach höher als erwartet.

Der Großteil der verfügbaren Informationen über die Vorgänge auf dem Kraftwerksgelände stammt direkt oder indirekt von der Betreibergesellschaft. Sie werden teils im Internet, teils auf Pressekonferenzen von TEPCO, der japanischen Atomaufsichtsbehörde (NISA), des übergeordneten Wirtschaftsministeriums (METI) oder seitens eines Regierungssprechers veröffentlicht. Die Plausibilität der Berichte wird aber oft durch völlig gegensätzliche Erklärungen nach nur wenigen Tagen oder Wochen immer fragwürdiger.

DIY-Geigerzähler

Safecast

Eine Gruppe von Wissenschaftlern, Hackern und Freiwilligen hat deshalb ein Projekt gestartet, das sich des Problems fehlender oder manipulierter Messergebnisse auf ungewöhnliche Weise annimmt. Safecast ist ein Open-Source-Projekt zur Messung und Auswertung der Daten über radioaktive Kontamination. Das Projekt nahm seinen Anfang schon im März 2011: Eine radioaktive Wolke schwebte über die größte Metropolregion der Welt, den Großraum Tokio mit 37 Millionen Einwohnern. Ein havariertes Atomkraftwerk mit gleich vier Reaktoren in nur 200 Kilometern Entfernung, in den Regalen der Geschäfte Tokios wurden die Essens- und Wasservorräte knapp - aber es gab kaum Informationen und erst recht keine präzisen Messwerte.

„Die Menschen waren in Panik“, sagt Akiba, Wissenschaftler und Hacker in Tokio. „Geigerzähler waren überall ausverkauft. Doch im Tokyo Hacker Space mögen wir das Gefühl der Hilfslosigkeit nicht. Wir haben überlegt: Woher kriegen wir Geigerzähler? Wie können wir an zuverlässige Messergebnisse kommen?“ Die Überlegungen führten schließlich zur Gründung einer Initiative, dank der jede/r User/in sich eigene Messinstrumente bauen, radioaktive Strahlung messen und die Werte live ins Internet streamen kann.

Messungen stehen unter Strafe

THS

Akiba

Mitglieder des „Tokyo Hacker Space“, einer Gruppe von etwa 30 Hackern und Wissenschaftlern, kauften über das Internet fünf alte, schwere Geigerzähler aus den fünfziger Jahren. Eine Idee wurde geboren, diese Geräte auf Autos zu montieren, mit PCs verbinden und so durch die Gegend zu fahren. Problem dabei war weniger die technische Umsetzung, sondern ein hastig eingeführtes Gesetz, sagt Akiba: „Die Regierung Japans verabschiedete ein Gesetz, das die Messung und die Veröffentlichung der Ergebnisse unter Strafe stellt. Da standen wir also und dachten, na toll, was jetzt. Doch verantwortlich für das Verbot der Messungen war die nationale Regierung Japans. Als wir unsere Messungen einfach weiter durchgeführt haben, waren die lokalen Regierungen der betroffenen Regionen sehr hilfreich.“

Hilfe bekam die Gruppe aber nicht nur von lokalen Politikern, sondern aus der ganzen Bevölkerung - von Freiwilligen, die sich mit den Geigerzählern in ihre Autos setzten und durch ganz Japan fuhren. Der Familienvater Stig zum Beispiel interessierte sich besonders für Schulen: „Etwa einen Monat nach der ersten Explosion war ich auf der ersten Fahrt in die Region Fukushima. Nicht direkt in die Sperrzone, aber in die Umgebung. Ich sah mir besonders genau verschiedene Schulgelände an. Wir fanden Schulgelände, von denen bereits die oberste Schicht der Erde entfernt worden war. Dort war die Strahlung tatsächlich vergleichsweise gering - im Gegensatz zum Gelände einer Schule, bei der das Erdreich noch nicht abgetragen war – die radioaktive Strahlung, die dort vom Erdreich ausging war wesentlich höher.“

Millionen von neuen Messwerten

Safecast

Angespornt von den Ergebnissen und der Beteiligung aus der Bevölkerung begannen die Hacker, selbst Geigerzähler zu bauen. Die hörbaren Klicks der Geräte wurden automatisch gezählt, ausgewertet und ins Internet hochgeladen - so entstand eine Datenbank mit Millionen von Messwerten. Auch die Anleitungen zum Bau der Messinstrumente wurden online gestellt. „Safecast“ bekam immer mehr Zulauf. Bisher, sagt Akiba, habe noch niemand eine Anzeige aufgrund der Messungen erhalten: „Jene Teile der Bevölkerung Japans, die vom Reaktorunglück betroffen sind, waren so verärgert, dass die Regierung einfach keine Chance mehr hatte, ihr Messverbot durchzusetzen.“

Ungewissheit und Angst entgegenwirken

Dank Safecast gibt es in Japan jetzt mehr und aussagekräftigere Daten über die Verstrahlung, als über die Katastrophe von Tschernobyl in Europa. Gefährlich strahlende „Hotspots“ in an sich wenig verstrahlten Gebieten, aber auch überraschend niedrige Werte in der Nähe des zerstörten Kraftwerks – präzise Daten sind für die Safecast-Gründer essentiell, um der Ungewissheit und Angst entgegenzuwirken. Akiba ist überzeugt, dass das Projekt „Safecast“ weltweit gebraucht wird, deshalb arbeitet er derzeit an zwei neuen Designs: „Eines davon ist für einen Geigerzähler mit Solarantrieb und sehr niedrigem Energieverbrauch. Das andere Design ermöglicht mobilen Internetzugang über ein 3G-Modem. Auf diese Weise könnte man die Geräte überall hinstellen und 24 Stunden rund um die Uhr völlig energieunabhängig Daten über die Messungen ins Internet übertragen.“ Auch diese beiden neuen Designs will Akiba im Netz allen Usern zur Verfügung stellen.

Safecast, das Open-Source-Projekt zur Messung radioaktiver Strahlung durch die Bevölkerung, wird auch in Europa zunehmend interessiert wahrgenommen – denn immerhin laufen hier derzeit 196 nukleare Reaktorblöcke. In Japan hingegen sind seit April alle 52 Atomreaktoren offline.