Erstellt am: 19. 4. 2012 - 19:14 Uhr
New York in the 80s
Steven Siegel auf Flickr
Der Herzschlag New Yorks
Der Treffpunkt war gut gewählt. Steven Siegel wollte das Interview dort geben, wo der Wandel New Yorks am sichtbarsten ist, am Times Square in Midtown Manhattan. So sitzen wir am oberen Ende der roten Stiege am Duffy Square, dem Herzen im Herzen Manhattans. Die Stiege bildet das Dach der TKTS-Ticket-Booth, wo man Tagesschnäppchen für Broadway-Aufführungen abstauben kann.
Vor uns die amorphe Masse der Touristen. Allein 50 Millionen Besucher zählte der Big Apple im vergangenen Jahr. Über uns das berühmte Blendwerk der LED-Screens und Billboards. Darunter die Filialen von Corporate America. Hier, an den „Crossroads Of The World“, treffen Familien aus aller Welt auf die Verheißungen der Mainstream-Konsumkultur. Das war nicht immer so.
Christian Lehner
Zwischen den 70er und 90er Jahren war der Times Square ein Hort der Sünde. Dealer, Prostituierte, Freier, Junkies und andere Nachtschattengewächse prägten die Szenerie. Die großen Entertainment- und Handelsketten mieden den faulen Apfel, der in den Siebzigern unter Bürgermeister Ed Koch beinahe pleite ging und in den boomenden Achtzigern schwer von der Crack-Epidemie und Aids gebeutelt wurde .
Damals lockten am Times Square Glücksspielbuden, Mom and Pop Stores, Strip Clubs, Bodegas, Stundenhotels, Delis und Video Arcades mit mal mehr mal weniger zweifelhaften Angeboten. Mittendrin im Geschehen Steven Siegel mit seiner 35mm Kamera. Er war in den späten Siebzigern als Jusstudent gekommen und – wie so viele vor und nach ihm – vom herben, funkelnden, gnadenlosen und befreienden Charme der Stadt begeistert. "You’re either overwhelmed and have to leave, or you are sucked in and fascinated", wie es der "law worker" und Columbia Alumni auf den Punkt bringt.
Zwischen Glanz und Ruinen
30 Jahre lang ist Siegel durch alle fünf Boroughs der Stadt gewandert, in Abbruchhäuser eingestiegen und in U-Bahnschächte geklettert. Er versteht sich als Chronist des Wandels. Die sozialen und städtebaulichen Dauerverwerfungen nennt er "the heartbeat of New York".
Anfang des Jahres ist das Webmagazin Gothamist.com auf Stevens Flickr-Archiv gestoßen und nun erlebt der äußerst sympathische und etwas schrullige Herr einen kleinen Hype.
Steven Siegel
Vor allem die Aufnahmen aus den siebziger und achtziger Jahren faszinieren und erschüttern gleichermaßen. Die Schnappschüsse bestechen weniger durch kompositorische Raffinesse oder professionelle Qualität, sondern durch ihre oft verwackelte, verwischte und rohe Unmittelbarkeit. Sie sind ein adäquater Ausdruck der Zeit, Street Photography als Punk Rock, mit einer zutiefst humanen Qualität. Etwa wenn er spielende Kids in den ausbegrannten Slums der South Bronx oder im heutigen Hipsterparadies Bushwick, Brooklyn fotografierte.
Wie so viele Stadtveteranen vermisst Siegel das freie, anarchische, kreative und leistbare New York. Dennoch neigt er nicht zur Nostalgie, wenn er über die Vergangenheit spricht. Der Geist der Bohème, der durch die wie ausgebombt wirkenden Stadtteile Lower East Side, Harlem oder South Bronx wehte, die Kunst des Punk und Hip Hop, die in den Trümmern enstandt, all das war eine Reaktion auf sehr reale, sehr harsche Lebensbedingungen. Auf Armut, Krankheit, Elend und eine vom lokalen Boulevard exzessiv ausgeschlachtete Kriminalitätsrate. Triumph und Tragödie einer Stadt.
Zwei Stunden sind wir da oben am "Stairway to Heaven" auf der roten Treppe gesessen. Vor uns der Times Square, der nach seinem massiven Facelift im Jahr 2008 demnächst wieder unters architektonische Messer kommt. In diesen zwei Stunden haben sich laufend Menschen zu uns gesetzt. Sie haben Steven eine Weile zugehört und Fotos geschossen. Am Ende hat sich ein älterer Mann mit französischen Akzent beim Stadtchronisten für die NYC-Lecture bedankt.Für uns hat Steven zu seinen Aufnahmen aus den 70s und 80s einen Audio Guide aufgenommen: