Erstellt am: 29. 4. 2012 - 09:00 Uhr
Ionisch lesen
marc carnal
Marc Carnal, der schönste Mann von Wien, sammelt seit geraumer Zeit Einkaufslisten.
Unterstützt wird er dabei von einem stetig wachsenden Kreis an redlichen Helfern, die ihn regelmäßig mit am Wegesrand oder in Supermärkten aufgelesenen Zettelchen beliefern, auf denen Fremde seltsame, amüsante, wirre, ungesunde oder fragwürdige Gedankenstützen notiert haben.
Zu diesen teils zauberhaften Stichwortsammlungen verfasst Herr Carnal dann Texte und trägt diese zwischendurch auch öffentlich vor.
Termine findet man hier.
marc carnal
Die ionische Kirchentonart ist der Ursprung des heutigen Tongeschlechts Dur. Wer also heute vom Blatt spielen kann, wird auch keine große Schwierigkeit haben, ionisch zu lesen.
Diese für den weiteren Verlauf völlig bedeutungslose Einstiegs-Info kann ich damit begründen, dass ich dieses Textdokument unter dem Arbeitstitel „Ironisch lesen“ abspeichern wollte, aber versehentlich „Ionisch lesen“ geschrieben habe.
Ironisch lesen – das ist eine Kulturtechnik, die jene zu beherrschen glauben, die gerne in Schundmagazinen und -zeitungen schmökern, sich aber eigentlich zu klug dafür finden. Früher raubte man höchstens am Sonntag Boulevardblätter aus Zeitungsständern. Hierzu wird auf der Seite unart-forum.com die Frage gestellt, ob derlei Ständer nicht zum Diebstahl verleiten würden. Verblüffend ist hierbei nicht nur die naive Frage, sondern vor allem der fehlende Widerspruch. Jene Bevölkerungsschicht, die tatsächlich Geld, wenigstens Kupfermünzen in die kleinen Münzbehältnisse wirft, wurde bisher von der Soziologie sträflich vernachlässigt, wahrscheinlich deshalb, weil ob ihrer Winzigkeit keine seriöse Forschung möglich wäre.
Seit einigen Jahren gehört es für die Mehrheit ohnehin zur Morgenroutine, vor dem Betreten von U-Bahn-Stationen Gratiszeitungen aus roten und manchmal rot-weißen Gestellen zu entnehmen. „Entnehmen“ ist allerdings eine viel zu harmlose Vokabel, „entreißen“ müsste es heißen. Es erstaunt immer wieder, mit welcher Gier sich das Volk auf ein für alle gleichsam kostenloses, in rauen Mengen aufgestapeltes Produkt stürzt. Dieselben Stapel finden sich bereits im Morgengrauen eine halbe Stunde nach Auslieferung auf den Sitzplätzen und Böden der öffentlichen Verkehrsmittel wieder.
Wirklich viel steht ja auch nicht drinnen. Skandal, Chronikmeldung, Skandal, skurrile Chronikmeldung, Nacktbild, Tierbild, Skandal, Gerücht, Chronikmeldung, noch ein Tierbild, Horoskop und dann Sport. Wofür derlei Blättchen ganze Redaktionen beschäftigen, ist mir delphisch. Ich würde für eine ansehnliche Summe gerne jede Nacht die gesamte Zeitung schreiben, sie wäre immer noch gründlicher recherchiert, sprachlich eleganter und billiger produziert.
Doch mit den vorangegangen, etwas kritisch geratenen Zeilen werde ich niemanden erschüttern.
Weiß ja eh jeder, dass er die mit Texten versehenen Werbebroschüren nicht ernst nehmen soll!
Ist ja nur für zwischendurch!
Man darf doch wohl noch ein bisschen schmunzeln über belanglose Pipapo-Witzchen.
Wenn man sich der Zielgruppe des Boulevards nicht zugehörig fühlt, stellen sich Überlegenheitsgefühl und Ironie schnell ein.
marc carnal
Als ich aufgrund eines regelmäßigen und etwas umständlichen Anfahrtsweges, der mich zu mehrmaligem Umsteigen zwang, eine Zeit lang ebenfalls täglich zur kostenlosen Trivial-Lektüre griff, verleitete mich freilich der Wille zur schnellen Zerstreuung. Anspruchsvolle Literatur duldet schließlich keine ständigen Unterbrechungen.
Nach einigen Wochen bemerkte ich allerdings mit Schrecken, dass mich die Mini-Meldungen allmählich interessierten. Wurden VIP-Gschichtln von vorgestern zitiert, wusste ich Bescheid und harrte der Fortsetzung. Ich ertappte mich sogar dabei, einen ganz schlimmen Gedanken zu formulieren, der da lautet: „Hab eh gerade so wenig Zeit, dann weiß ich wenigstens im Großen und Ganzen, was so passiert ist.“ Dass ich die manipulativen Ingredienzien von den Fakten subtrahieren könne, redete ich mir ebenfalls ein bisschen ein.
Bis ich plötzlich eines Tages beim Griff zur Dreckszeitung mit Schrecken begriff, dass mich Bequemlichkeit und Selbstbetrug zum Teil der Zielgruppe gemacht hatten.
Ironische Distanz ist am schwierigsten zu Alltäglichem aufzubauen. Wenn der geschriebene Schund alltäglich wird, geht diese rasch auch beim Lesen verloren.
Ein Kollege, der in Deutschland aufgewachsen ist, aber seit zehn Jahren in Österreich lebt, erzählte mir einmal, dass er immer wieder gerne zur erfolgreichsten Schundzeitung des Landes gegriffen hatte, vor allem, um sich zu amüsieren. Als er aber eines Tages einem etwas grimmig dreinblickenden Gesellen mit afrikanischen Wurzeln gegenübersaß und insgeheim „Drogendealer“ dachte, erkannte er: „Huch, da bleibt ja doch was hängen …“
Seit ich zwecks Kurzstrecken-Kurzweil auf Gratiszeitungen verzichte, habe ich mich wieder auf die nützlichen Features meines vielseitigen Handys besonnen und vertreibe mir die Minuten eben mit Wikipedia-Artikeln, etwa über die ionische Kirchentonart. Es bleibt ja doch was hängen.