Erstellt am: 15. 4. 2012 - 13:00 Uhr
Snowbombing 2012 in der Nacht
Ich glaube, dass es im Grunde nur zwei Konzepte von Urlaub gibt: Erholung oder Verausgabung.
Man kann in der nicht dem Lohnerwerb gewidmeten Zeit, die man an einem Ort verbringt, an dem einen hoffentlich möglichst wenig Leute kennen, versuchen, sich so leer wie möglich zu machen, alles zu vergessen, oder sich zu sammeln, die auseinander brechenden Fragmente des Selbst durch den Klebstoff des Schlafes und der Ruhe wieder zusammen zu löten.
Dreimal dürft ihr raten, in welche Kategorien eine Woche Snowbombing fällt. Going fucking mental, nutz, bonkers, berserk. Ich glaub das sind die Gesprächsfetzen die ich in den letzten Stunden am häufigsten gehört habe.
Ich bin hier im schönen Zillertal, weil ich erstens immer schon einen heftigen Flirt mit englischer Bassmusik und den UK Varianten von House pflege und weil ich zweitens eine große Voyeurin bin.
FM4 / Natalie Brunner
Ich liebe es, Menschen in inszenierten Ausnahmezuständen, in die sie sich freiwillig begeben, zu sehen. Ich mag die Zustände, in denen selten etwas sinnvolles passiert, aber in denen alles möglich ist.
Sechstausend englische Partyheads in einem solchen Zustand zu sehen, im schönen Zillertal, einem Ort, an dem man des Nächtens an Tankstellen keinen Alkohol kaufen kann, das verspricht Unterhaltungspotential.
FM4 / Natalie Brunner
Mayrhofen ist ein sehr schöner Ort mit spektakulären Alpenpanorama, das habe ich schon festgestellt, als ich mit zugekniffenen Augen in der Früh zur Apotheke getaumelt bin. Dort, wo viel gefrorenes Wasser liegt und woran Menschen mit Höhenangst nicht einmal denken möchten, ist es sicher auch ganz schön. Jackmaster zu hören, während man in der Sonne liegt, stelle ich mir auch ganz toll vor, aber dafür haben wir Heinz Reich.
Ich habe mich des Nächtens eher den Typifizierungen der verschiedenen Versionen von Stadeldiskos gewidmet. Glaubt mir, es gibt gewaltige Unterschiede: Vom rustikalen Vollholz der Marke "Auf der Alm da gibt’s koa Sünd" bis zu 70er Jahre Disco Sleaze hat Mayrhofen einiges zu bieten.
Ich kann mir richtig vorstellen, wie die englischen Veranstalter vor Freude auf und ab gesprungen sind, als sie diese Locations entdeckten, die für britische KollegInnen noch viel mehr Themenpark-Charme haben müssen als für mich.
Für eine Woche kann man beim Snowbombing Musik hören, die so ganz und gar nicht in die Umgebung passt. Die Organisation und die BesucherInnen sind zu 99 Prozent englisch. Die Idee ist raffiniert, dadurch, dass das Festival eine Woche dauert, kriegt man ein Line Up zusammen, das, wenn sich die Party nur am Wochenende abspielen würde, unbezahlbar wäre und man bekommt den Wintertourismus-Ort auch nach Saisonende noch einmal richtig voll.
FM4 / Natalie Brunner
Letztes Jahr war mein Snowbombing Debut und ich bin ziemlich rotiert vor Begeisterung und wollte soviel wie möglich sehen. Da das Line Up dieses Jahr einige Dopplungen mit 2011 hatte, waren meine Ambitionen gemäßigt. Skream, Benga, Fatboy Slim, Chase and Status, Toddla T, Oneman, The Cuban Brothers gehören zu den Fixstartern.
Als Neuzugang am Line Up: Soul Clap, die Edit-Könige from Outta Space, die gerade mit ihren neunten Album E Funk "interplanetarische Dopeness" verbreiten, sind zwei schwer beschäftigte Herren, aber selbst ihr Tour Plan ist nicht so voll, dass sie an einem Montag nicht einen Abstecher ins Zillertal wagen würden.
E Funk steht übrigens für Everybody Funky Under Natures Kingdom und das wäre auch ein sehr passendes Motto für die Snowbombing Parties.
Die BesucherInnen kann man sich durchaus so vorstellen, wie die Figuren in dem Soul Clap Video. Ich habe einen Haufen Pikachus getroffen, den Marshmallow Man von den Ghostbusters, jede Menge Superhelden waren am Start und die Klemptner Mario und Luigi hatten dieses Jahr sogar ihren Dinosaurier Yoshi mit.
Es gibt kaum etwas schöneres, als einen vollkommen zerstörten Pikachu Hand in Hand mit einem Pink Panther nach Hause torkeln zu sehen.
Ähnliche Rührung überkommt mich bei dem Gedanken, ein Dizzee Rascal Konzert im Zwergenwald auf der Forest Stage zu besuchen.
Lets go bonkers
Ich habe mich 2003 in die Rohheit und den brachialen Zorn des jungen Rascal verliebt. Das, was Wiley und Dizzee auf Boy in da Corner erzeugten, war etwas neues und brach Konventionen.
FM4 / Natalie Brunner
Nach drei Alben konnte ich mir nicht mehr anhören, wie Dizzee Rascal mit den Charts und der Wiege der Apokalypse, namentlich Ibiza, zu flirten begann. Ich verstehe gut, dass man an irgendeinem Punkt auch einmal gerne Geld verdienen würde und sich nicht mehr mit Kollegen auseinandersetzen möchte, die einen mit Erstechen und sonstigen Gemeinheiten bedrohen, aber der Dizzee Rascal, der einen UK Number One Hit nach dem anderen produziert, interessiert mich musikalisch nicht mehr. Seine letzten beiden kommerziell sehr erfolgreichen Alben "Dance Wiv Me" und "Tongue N' Cheek" kenne ich nur vom abdrehen.
Ich stapfe durch den Zwergenwald zu Dizzee Rascal und höre Fix up Look Sharp. Dizzee Racals Comic Stimme springt auf den harten eckigen Beat auf und ab. Ich bin glücklich.
Dann war es aber auch schon vorbei mit meinen reudigen Rave like it´s 2005 Glücksmomenten. Dizzee ist ein Profi und wirft die Hit-Maschine an. Zuerst besorgt er es uns balearisch und brüllt Disco Disco zu Stampf House. Und die jungen Herren, die ab 21.30 Uhr in zunehmender Masse ihre Oberkörper enthüllen, scheinen es zu goutieren, dass Dizzee es uns balearisch besorgen will.
FM4 / Natalie Brunner
Der nächste meiner - und offensichtlich nur meiner - Meinung nach relativ unspektakuläre Hit ist Dance With Me und schon sind wir bei der Zugabe Bonkers. Ein Riesen-Hit, den Rascal mit Armand van Helden gemacht hat und die er über eine geschätzte Viertelstunde zelebriert. Es gibt zwei mal Glitterregen und drei Feuerwerke und einen Großraumrave Laser Einsatz. Im Moshpit bewerfen sich junge Herren mit nackten Oberkörper mit Baummull. Dizzee Rascal erzählt uns noch, dass er Snowboarding and Shit war und der Spaß ist vorbei.
Es ist 22.09 Uhr und das erste Dixie Klo im Zwergenwald droht umzufallen. Ein Gruppe euphorischer BesucherInnen bringt es zum Schwanken. Ob sie wohl jemanden da drinnen eingeschlossen haben?
FM4 / Natalie Brunner
Um 00.30 Uhr ist es dann soweit: der erste männliche Nackte des Abends. Ein junger Herr entledigt sich in der Rezeption meines Hotels seiner Kleidung.
Nach diesem Intermezzo ist mir nach subtileren Genüssen zumute und ich entscheide mich für heute Nacht für den Partystadel, wo Ben Westbeach spielt. Er ist ein britischer Sänger und DJ, der auf Gilles Petersons Brownswood Recordings Label letztes Jahr ein Album namens "There's More To Life Than This" veröffentlicht hat. Zu Beginn seines Sets ist völlig klar, warum Westbeach zur Brownwood Familie gehört. Er öffnet die Echochamber, die Bässe werden tiefer, er spielt souligen House und singt auch dazu, letzteres leider viel zu kurz. Ben Westbeach ist ein großartiger Sänger, aber leider kann ich der Dynamik und der Dramaturgie seines DJ Sets im Ravestadl nicht folgen. Die Stil- und Härtewechsel sind mir zu schnell zu abrupt. Auf klassische House Pianos folgen härtere elektroide Bretter und dann Rhythmus betonte UK Funky Produktionen. Ich krieg die Kurve nicht und wechsle zu den Stanton Warriors.
Drop the base
Von dem Breakbeat-Duo ist nur die eine Hälfte angereist, der eine Warrior ist dafür umso konsequenter im Breakbeatreich unterwegs. Ich spiele wieder das alte Spiel "Genrebezeichnungen erfinden" mit mir selbst und bei Holligan Autodrombreak glaube ich einen Treffer gelandet zu haben. Zumindest grinsen meine Freunde. Die Party ist bestens. Leute mit nackten Oberkörper und keine Furcht vor Schnittverletzungen wälzen sich in bester Iggy Pop Manier am Boden.
FM4 / Natalie Brunner
Ich bin fasziniert von einer üppigen Dame, die entfernt Ähnlichkeit mit Miss Piggy hat und im fleischfarbenen T-Shirt mit Feen-Flügel neben dem DJ herumhüpft und so tut, als würde sie den Laden schmeißen. Sie rudert abwechselnd mit den Armen und checkt dann wieder ihre SMS während sich der eine Stanton Warrior schon ins Eck der Bühne verzogen hat.
Als ich bemerke, dass sie sich auch pinke Glowsticks zwischen ihre Titten gesteckt hat, kippt meine Faszination schon fast in Begeisterung. Schämen sich DJs eigentlich oft für ihre Freundinnen oder dafür, dass die Menschen glauben, die zarten Geschöpfe auf der Bühne sind ihre Freundinnen. Wären "No she´s not with me"-Schilder, T-Shirts oder Visuals eine Marktlücke?
FM4 / Natalie Brunner
3.30 Uhr: Die Clubs sind noch angenehm gefüllt, weil der Großteil der Menschen noch bei Chase and Status in der riesigen Mehrzweckhalle verweilt - bevor es zu dem vorprogrammierten Infarkt beim Schließen der großen Halle kommt. Ich wage noch einen Club-Wechsel und gehe zu Boddika. Er arbeitet hinter den Decks wie ein Ingenieur in einen Sci Fi Film und er ist auch der erste, der es schafft, durch sein Set den Raum zu verändern. Sein Set ist subtil und deep, das Klangspektrum der Sounds, die er verwendet, wirkt gut überlegt. Wenn er Vocals spielt, dann sind sie verhallt und gefiltert. Kein Auszucken, Herumhüpfen und Kreischen, sondern Konzentration, eine Reise nach innen. Am nächsten Tag lese ich, dass er seinen Namen von dem Auftragskiller in Robocop hat. Das macht alles Sinn.
Der Partyzug ist abgefahren für dieses Jahr: Zerstreuung der Einzelteile oder Rekonfiguration des Selbst. Ein Ticket, das in entgegengesetzte Richtungen führen kann, und bis auf Boddika war es klar, wohin diesmal die Reise ging.
FM4 / Natalie Brunner