Erstellt am: 8. 4. 2012 - 10:00 Uhr
Ein Schiff wird kommen
Ich kann mich noch gut daran erinnern. Im Sommer 1997 wartet die Welt darauf, dass die Titanic ein zweites Mal sinkt. Und damit ist weniger das Schiff selbst gemeint, sondern dass das größenwahnsinnige gleichnamige Filmprojekt absäuft, mit dem der Regisseur James Cameron Schlagzeilen macht.
„An manchen Tagen bin ich aufgewacht“, klagt die 22-jährige Kate Winslet damals in Interviews, „und habe mir nur eines gedacht: Bitte lieber Gott, lass mich sterben!“ Die Britin, die Mitte der Neunziger als eine der ambitioniertesten Aufsteigerinnen der Kinolandschaft gehandelt wird, berichtet von einem wahren Martyrium am Set. Von unzähligen schlaflosen Nächten, körperlichen und seelischen Abschürfungen, sogar dem beinahen Tod durch Ertrinken.
Die Titanic war das größte und luxuriöseste Schiff ihrer Zeit. Vor hundert Jahren, am 15. April 1912, fünf Tage nach dem umjubelten Start, wurde der Ozeanriese von einem Eisberg gerammt. Der Stolz der Schifffahrtsindustrie verschwand in den eisigen Fluten des Atlantiks. Etwa 1500 Passagiere, mehr als zwei Drittel der Besatzung, ertranken bei dem Unglück. Etliche Bücher, TV-Dokumentationen und Filme versuchen den Terror der letzten Stunden auf dem sinkenden Schiff zu beschreiben. Nun kehrt nach 15 Jahren James Camerons Version der Katastrophe zurück.
All das passt zum Image des megalomanischen Mannes im Regiestuhl. Manche Storys, die zu dieser Zeit über James Cameron herumschwirren, lassen sogar die diktatorischen Horrorgeschichten rund um Stanley Kubrick erblassen. „Ich bin froh das ich es gemacht habe, aber es war eine schwere Prüfung des Schicksals“, meint Winslet über die sechs nervenzerfetzenden Monate an Bord der Titanic. „Wenn ich gewusst hätte worauf ich mich da einlasse, hätte ich nicht zugesagt“.
Centfox
Rette sich, wer kann
In jenem Sommer, als ein weiterer Starttermin platzt, weil Cameron noch mitten im Schneideraum sitzt, scheinen es die Studiobosse zu bereuen, dass sie das irrwitzigste Projekt der jüngeren Hollywood-Geschichte abgesegnet haben.
Eigentlich sollte es doch bloß um eine klassische Lovestory gehen, die an Bord entflammt und in den eisigen Fluten endet. Aber Cameron, der zuvor Kassenschlager wie die ersten beiden „Terminator“-Streifen oder „Aliens“ verantwortete, will, dass jedes noch so winzige Detail stimmt. An der Küste Mexikos wird ein gigantischer Wassertank errichtet, in dem sich ein minutiöser Nachbau des Schiffes befindet. Vom Bodenbelag bis zu den Tapeten, von den Salons über die Kabinen bis zum Maschinenraum - alles beinahe im 1:1 Format. Als die Spezialisten für computergenerierte Effekte mit der Nachbearbeitung beginnen, sind die Kosten des Films längst ins Unendliche explodiert.
Mit in den Neunzigern unglaublichen 280 Millionen Dollar verweist „Titanic“ den davor teuersten Film aller Zeiten – „Waterworld“ - weit auf den zweiten Rang. Das schundig wirkende Kevin-Costner-Endzeitepos hatte bislang alle Superlativen-Charts in punkto Aufwand und Ausstattung angeführt. Nicht aber die Boxoffice-Charts, da zählte der Streifen zu den größten Flops ever.
Centfox
Ein Getriebener treibt an
Überhaupt, ätzen Kritiker im Vorfeld, gehören Filme, die im nassen Element spielen, nur in den seltensten Fällen zu den kommerziellen Gewinnern. Auch Cameron selbst machte mit „The Abyss“ (1989) diese bittere Erfahrung. Das aufwändige Tiefsee-Abenteuer, unter enormen Problemen produziert, erfüllte in keiner Weise die Erwartungen der Geldgeber.
Enorme Erwartungshaltungen ruhen nun auf James Cameron, der Tag und Nacht schuftet. Monatelang gönnt er sich nur drei bis vier Stunden Schlaf, ohne tägliche Vitamininjektionen und Pflanzensaftkuren wäre der Zusammenbruch sicher. Nicht nur sich selbst, auch das Filmteam führt er an die physischen und psychischen Grenzen. „Bin ich ein Getriebener?“, fragt sich Cameron kurz vor dem Start der Presse gegenüber, „Ja, absolut!“
Am 19. Dezember, mit einem halben Jahr Verspätung, ist es in den USA soweit - Zahltag. Wenn die Titanic absäuft, munkelt man, dürfte es in Hollywood wohl nicht genug Rettungsringe geben. Aber der manische James Cameron, der an sein irres Projekt glaubt, wird, wir wissen es, für einen Moment lang zum König der Welt gekürt werden, auf den die Oscars herabregnen. Der Film mutiert blitzschnell zu einem Phänomen und Kate Winslet und Leonardo DiCaprio zu Superstars.
Centfox
Emotionen in neuen Dimensionen
Dass die Titanic jetzt nach fünfzehn Jahren in 3D auf die Leinwand zurückkehrt, pünktlich zum hundertsten Unglückstag, hat klarerweise ganz schnöde finanzielle Gründe. Aber nicht nur.
Cameron, der mit „Avatar“ den noch immer zentralen 3D-Film der Gegenwart geschaffen hat, argumentiert weniger mit epochalen Schauwerten, als mit noch geballteren Emotionen, wenn man als Zuschauer mitten ins Geschehen rückt. Mit seiner berüchtigten Perfektion versuchte der Regisseur nun, die zweidimensionalen Bilder in das neue Format umzuwandeln.
Mit einem Film, der tatsächlich in 3D gedreht wurde, kann die neue „Titanic“-Version natürlich trotzdem nicht mithalten. Aber die Konvertierung besticht durch Eleganz, Helligkeit, leuchtende Farben und eine Handvoll wirklich umwerfender Bilder. Wer wie viele glühende Fans den Film schon unzählige Male gesehen hat, mag sich den Weg ins Kinocenter sparen. Aber für Nostalgiker und vor allem Uneingeweihte könnte „Titanic 3D“ zur aufregenden Erfahrung werden.
Centfox
There is no escape
Das Faszinierende ist nämlich, fernab der zusätzlichen Bilddimension, dass der Film selbst kaum gealtert ist. Wie anno 1997 musste ich zwar über die simple Schwarzweiß-Malerei lachen, mit der Cameron die Klassengesellschaft an Bord portraitiert, vom parodistisch versnobten Oberdeck bis zu armen, aber stets lustigen Seelen in der dritten Klasse, die zu ausgelassener Folklore feiern.
„Dieses Drama, das sich vor hundert Jahren mitten im Atlantik ereignete, war viel mehr als nur eine Katastrophe“, meint der Titanic-Spezialist Ric Marechal im FM4-Gespräch. „Es war aus vielerlei Gründen der Beginn eines Mythos, der noch heute unzählige Leute beschäftigt. In gewisser Weise stand der Untergang des Schiffs für das Ende einer kurzen Periode des Friedens und kündigte den ersten Weltkrieg an. Die Titanic mit ihren höchst unterschiedlichen Decks spiegelte auch die harte Klassengesellschaft wieder und das soziale Brodeln deswegen. Nicht umsonst sind ungleich mehr Menschen aus der dritten Klasse ertrunken als aus der Ersten.“
Den putzig-jungen Leo DiCaprio kann man, im Vergleich zur gealterten Variante, auch nicht ernstnehmen. Und wenn die Panflöten von James Horner ertönen, darf man genauso die Nase rümpfen wie beim gefürchteten Abspannsong panisch flüchten. Eines hat sich aber nicht verändert: Sobald der Eisberg doomig ins Bild rückt und die Hysterie den Film übernimmt, funktioniert die Dramaturgie minutiös wie eh und je, da wird es ernst, gibt es keine Flucht.
Cameron gelingen dann nicht nur effekttechnische Triumphe, sondern auch zahlreiche Vignetten der Todesangst, des (Anti-)Heldentums und der Trauer. Wobei Eventkino-Konkurrenten wie Michael Bay oder Steven Spielberg der visuelle Bombast entweder in sinnentleertem Geprotze oder reaktionären Idyllen endet, erzählt James Cameron von unwiederbringlichen Augenblicken, der Melancholie des Moments, von Liebe, Tod und dass uns am Ende nur die Erinnerung bleibt.
Überlebensgroßes Pathos? Aber ja. „Titanic“ ist ein Monument gegen die postmoderne Ironie, die virtuose Verknüpfung von Kitsch und Katharsis, Technik und Emotion.
Centfox