Erstellt am: 4. 4. 2012 - 12:14 Uhr
"In jedem Telefon - Mikrofon"
“Unter jedem Balkon – Mikrofon, in jedem Salon – Mikrofon, in jedem Telefon – Mikrofon”, diese vielleicht ein bisschen kindisch klingenden Strophen des bulgarischen Dissidentenlyrikers Radoj Ralin aus seinem Gedicht „Lichen Kontakt“ („Persönlicher Kontakt“) aus dem Jahr 1965 beschreiben das Leben meiner Eltern im realen Sozialismus am besten. In diesen Jahren bespitzelte jeder jeden. Bereitwillig traten die Menschen in den Überwachungsapparat der Staatssicherheit ein, um sich einen Karrieresprung zu ermöglichen oder weil das System sie erpresste. „Wir treffen uns persönlich, das ist nicht fürs Telefon“, sagen die Menschen in Bulgarien immer noch, wenn sie sich etwas Persönliches sagen wollen, mehr als zwanzig Jahre nach dem Fall des Kommunismus in Europa. Der Schatten der Staatssicherheit hängt immer noch über jedem sozialen Feld. Im bulgarischen Staatsbudget 2012 ist für Überwachung fast doppelt so viel Geld wie für die Akademie der Wissenschaften eingeplant.
Ich erzähle euch das im Bezug auf das umstrittene Vorratsdatenspeicherunggesetz in Österreich. Da ich keinen Bock habe, mich im 21. Jahrhundert so wie meine Eltern in den frühen 1980er Jahren zu fühlen und dem österreichischen Staat Geld und Mühe zu ersparen will, sage ich ihnen gleich und „ohne Prügel“ was der Staat in meinen „Vorratsdaten“ finden kann.

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Im letzten Monat hat mich meine Mutter circa fünfundzwanzig Mal angerufen. In unseren Gesprächen ging es meistens um meine immer noch schlechte finanzielle Lage und meinen mangelnden beruflichen Erfolg. „Als dein Opa 26 Jahre alt war, war er schon stellvertretender Direktor“ ist der am meisten verwendete Satz ihrerseits in diesen Telefonaten. Meinerseits folgt ein circa halb-minütiges Schweigen, in dem ich überdenke, dass mein Opa mit 65 immer noch stellvertretender Direktor der gleichen blöden Firma war.
Neben meiner Mutter ruft mich am häufigsten mein Freund V. an. Was V. meistens von mir wissen will, ist, ob ich weiß, wo es eine „dalavera“ gibt. Das ist ein schwer übersetzbares bulgarisches Wort. Liebe Überwacher, habt jetzt keine Angst! V. hat nicht die Absicht, einen terroristischen Anschlag zu verüben. Nach langem Überlegen glaube ich, dass sich „dalavera“ am besten mit dem deutschen Wort „Sonderangebot“ übersetzen lässt. V. erwartet von mir, dass ich einen Ort finde, wo wir gratis essen und trinken können und wenn ein paar Mädels dabei sind, ist er besonders erfreut.
Am dritt-häufigsten ruft mich Eli an. Ich und Eli haben eine besondere Verbindung zueinander, nachdem sie eines Tages ein Messer nach mir geworfen hat. Dabei war ich war nicht einmal das Ziel dieser Attacke, sondern ihr damaliger Freund Tom. In einem Moment großer Emotionen, wo einer von uns gehen sollte, entschied sich Eli radikal zu handeln und das Messer flog aus ihrer Hand. Zum Glück traf Eli nur einen Küchenschrank. Seit diesem Vorfall ruft sie mich fast jede Woche an, um zu erfahren, wie es mir geht.
Falls der liebe Staat meine E-Mails durchstöbern will, dann findet er eine Bewerbung für eine Nachtportierstelle, für zwei bis drei verschiedene Call Center und Cateringfirmen, eine als Fahrstuhl Operator im Donauturm und für weitere Jobs. Die Antwort auf die Bewerbungen ist immer ähnlich und endet stets mit dem freundlichen Satz „Wir wünschen Ihnen einen weiteren beruflichen Erfolg“. Also keine Angst, ich untergrabe den österreichischen Arbeitsmarkt nicht!

gemeinfrei
In meinen E-Mails findet man auch die - sich immer wiederholenden - Einladungen von Herrn Petrov, der mich auf sämtliche Podiumsdiskussionen zur Abstammung der Protobulgaren einlädt. Ich interessiere mich für die Abstammung der Protobulgaren genauso wie für die Geschichte der Nasenprothese von Michael Jackson und bin noch nie zu einer Sitzung gegangen, aber Herr Petrov hört nicht auf, mich jeden Monat einzuladen. Lieber Herr Petrov, ich wünsche Ihnen viel Erfolg mit dem Finden von einem Protobulgaren in Afghanistan! Sagen sie ihm viele Grüße von mir.
Wäre ich jetzt an der Stelle des Staates, der die Korespondenz von Todor Ovtcharov liest, dann würde ich wahrscheinlich sagen: Das ist ein leerer Mensch und wir haben keine Ahnung, was er auf diesem Planeten sucht. Was sind seine hohen Ziele und wenn er so weiter macht, wohin wird ihn das bringen? Und ich würde dann denn Staat fragen: Haben sie nicht andere, wichtigere staatliche Aufgaben, als sich mit Menschen wie mir zu beschäftigen?