Erstellt am: 6. 4. 2012 - 10:41 Uhr
„Eine einfache Geschichte aus unserer Zeit“
Simon ist fünfzehn, später im Buch sechzehn. Und weil Papa zwar gut mit Menschen und Worten ist, sonst aber eher wenig auf die Reihe bekommt, muss die Familie umziehen. Man landet in der deutschen Version eines sogenannten White Trash Trailerparks.
Hier fungiert der Vater als eine Art Platzwart, die Mutter als Einkaufshilfe für Mieter und Gäste. Der Lebensraum im familiären Dauer-Wohncontainer beträt 29qm2; die abgewrackte Camping-Ferienanlage, in der er sich befindet, heißt AUE ... das Au(weh) steckt hier schon drinnen.
Und so meint Muttern auch bei der ersten Begegnung mit ihrer zukünftigen Behausung (zu lesen übrigens bereits auf Seite eins): „Seit diesem Tag hätten wir wissen müssen, dass die Geschichte nicht gut ausgeht“.
Auweh. Nochmal.
I am just a poor boy.
Though my story's seldom told,
I have squandered my resistance
For a pocketful of mumbles,
Such are promises
All lies and jest
Still, a man hears what he wants to hear
And disregards the rest.
- Aus "The Boxer"/Lyrics: Paul Simon
Ein Frühjahr plus Sommer und beginnenden Winter werden wir Hauptdarsteller und Ich-Erzähler Simon begleiten. Durch seine Bekanntschaften in der Wohnwagensiedlung, seine Streifzüge mit dem Hund in der Umgebung, seine (einzige) Freundschaft mit Schulkamerad Erik, der später in der Psychiatrie landet. Wir erleben ebenso den ersten Job als Apfelpflücker, die erste Schwärmerei sowie das langsame Erkennen, dass die Helden der Kindheit nicht immer Helden bleiben werden.
Coming of Age werden jetzt wohl einige nicken.
Ramune Pigagaite
Debüt
Andreas Martin Widmann ist Jahrgang 1979, „Die Glücksparade“ sein erster Roman. Er war schon Stadtschreiber, unterrichtete, hatte Stipendien. Und natürlich Auszeichnungen. Auch beim Kurzgeschichten-Wettbewerb FM4 Wortlaut ist er zwei Mal unter den besten Zehn gelandet, 2008 und 2010.
Eine wichtige Ermunterung war das für ihn, erzählt Widmann im Interview, besonders im ersten Jahr seines Mitmachens. Zum Schreiben gebracht haben ihn - auf eine Art - allerdings sein Bruder und dessen Jo-Jo. Während der eine ständig damit spielte, wollte der andere (nämlich der Autor) es auch haben. Das gipfelte in der Geschichte Philipp und das doofe Jo-Jo – Widmanns allererste.
Doch zurück zum Aktuellen. „Eine einfache Geschichte aus unserer Zeit“, würde Andreas Martin Widmann seine Glücksparade in einem Satz beschreiben. Vorangestellt hat er dem Roman ein Zitat aus „The Boxer“ - geschrieben von Paul Simon. Das hat mehrere Gründe: zum einen die partielle Namensgleichheit zu Protagonist Simon, der sich im Laufe der Handlung auch mehr und mehr für den amerikanischen Musiker und dessen Werk begeistert. Zum anderen meint Widmann, „weil in diesem Song eine ganze Reihe von Motiven angelegt sind, mit denen der Roman auch spielt.“ Im Vergleichstest kommen wir da wohl auf Armut, Einsamkeit, aber auch Kämpferinstinkt.
Lebenslauf
Der Autor selbst bezeichnet sich übrigens als Pop und Rock Aficionado; auch das Gesamtwerk von Simon&Garfunkel wäre vorhanden. Besonders als er im Alter seines Ich-Erzählers war, hätte er die Platten geliebt, erzählt Widmann.
Gut, da will wohl jemand die Autobiografie-Frage gestellt bekommen?!
rowohlt
„Es ist immer verführerisch zu sagen ja – weil das die Leute, glaub ich, sehr lieben. In dem Falle wäre es aber nicht richtig. (...) Was wahrscheinlich rein gekommen ist von mir, ist die Wahrnehmung, die Sicht auf die Dinge. Das steckt automatisch drinnen. Ich glaube, selbst wenn man das unbedingt vermeiden wollte, könnte das gar nicht anders sein, als dass von dem, was man selbst erlebt, reflektiert, etwas mit hineinkommt in den Erzähler." Die Lebensumstände von Simon wären nämlich eher eine Gegengeschichte zu eigenen, meint Widmann.
Bleibt noch über den Titel "Die Glücksparade" zu sprechen. Der muss wohl als Anti-These zum Geschehen interpretiert werden, denn so richtig happy ist hier keiner. Zum einen Ja, antwortet Andreas Martin Widmann, zum anderen sei der Titel aber auch Ausdruck der Bewegung. Abzielend auf die Parade der Figuren, die durch diese Geschichte ziehen und alle irgendwie Glücksjäger wären. Und für seinen Protagonisten Simon sollte wohl noch Glück drinnen sein, meint Widmann: "Es kann eigentlich noch nicht zu spät sein in dem Alter".