Erstellt am: 27. 3. 2012 - 13:51 Uhr
Paranoia Plaudereien
CHRISTIAN: Da sitzen wir rund um den virtuellen Kamin und schwärmen, Harald Ladstätter, Sebastian Selig und meine Wenigkeit. Drei Filmbesessene, die aus unterschiedlichen Richtungen kommen, lassen ihren Assoziationen zu einem auserwählten Streifen freien Lauf und driften dabei schon mal ins fantechnische Delirium. Alles mit voller Absicht natürlich.
Erneut ist es die Apokalypse, die unsere filmobsessive Runde zusammenbringt. In einer etwas anderen Konstellation haben wir hier bereits über Lars von Triers Endzeitepos „Melancholia“ gesprochen. Unser geliebter Däne fährt in seinem Film gezielt grandiose Spezialeffekte und brachiale Bilder auf, um im Grunde ein Thema anzureißen, das Roland Emmerich nicht ferner sein könnte: das Krankheitsbild der Depression.
Gänzlich ohne Effekte kommt dagegen „Take Shelter“ aus, der gefeierte neue Streifen des US-Indieregisseurs Jeff Nichols. Aber auch hier haben wir es mit einer Art Mogelpackung zu tun, denn wenn der durchschnittlich wirkende Arbeiter Curtis, eindringlich vom unglaublichen Michael Shannon gespielt, einen apokalyptischen Sturm aufbrausen sieht, dann bahnt sich dabei kein üblicher Mysterythriller an.
Harald Ladstätter ist aufgewachsen im Last House on The Left, ausgebildet an der School of Rock, unterwegs auf dem Lost Highway, wohnhaft in der Stadt der lebenden Toten, auf Urlaub auf der Schreckensinsel der Zombies. Lebt, arbeitet, liebt und leidet in der Bundeshauptstadt und ihren Kinos. Schreibt darüber auf filmtipps.at
Sebastian Selig lebt im Kino, einem gigantischen Gewölbe voller seltsam bunter Lichtspiele. Ein Ort von Jahreszeitenwechseln und plötzlichen Wetterumschwüngen gänzlich unberührt. Was er dort sieht, darüber schreibt er in Magazinen, wie Splatting Image, Deadline oder auch hier.
Abseits mancher Genre-Versatzstücke entpuppt sich der Film als beklemmende Studie eines Mannes, der, durch privaten und okönomischen Druck in die Enge getrieben, langsam den Boden unter den Füßen verliert. Und mit den Halluzinationen und Visionen, die Curtis immer mehr heimsuchen, beginnt auch der Boden im Kinosaal zu schwanken. Bedrohlich. Bedenklich. Nachhaltig.
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CHRISTIAN: Als ich das Kino verlassen habe, es war nach einer Viennale-Vorführung des Films, zur Mittagszeit, bin ich mit weichen Knien durch die Wiener Innenstadt getaumelt. Wie ist es euch nach "Take Shelter" ergangen, danach und im Saal?
SEBASTIAN: Ich habe ihn in einem Zustand traumhafter Übermüdung in einem fast menschenleeren, sehr großen Multiplex-Saal gesehen. Nachts. Eine zauberhaft zermürbende Erfahrung. Der Film klebt sich ja wie öliger Regen an dir fest. Macht alles schwer. Drückt Dir die Luft weg. Selbst dann, wenn es beim großen Nachbarschafts-Essen kurz richtig laut wird und Kniescheiben zerbersten, schreckt man nicht hoch, sondern starrt wie gelähmt ins Licht der Leinwand. Anschließend unruhig zu träumen, lag da fast schon auf der Hand.
HARALD: Ich habe mich förmlich in den extrabreiten Cinemascope-Bildern verloren und bin sehr sehr dankbar, den Film hier in Wien auf einer riesigen Leinwand und mit guter Projektion gesehen haben zu dürfen. Mir tun ja Menschen, die den Lichtspieltheatern ganzjährig fern bleiben und ausschließlich heruntergeladene Filme auf mickrigen Laptop-Monitoren ansehen, ganz aufrichtig leid.
CHRISTIAN: Ich glaube, die tun uns allen leid. Und man muss es sehr schätzen, dass es so ein Film auch auf eine große Leinwand schafft.
SEBASTIAN: Kino sind unsere Bunker. Die gilt es auszubauen.
HARALD: Auch dass das Kino bei weitem nicht ausverkauft war, fand ich höchst angenehm. Ich schätze es nämlich ungemein, ganz alleine dem Geschehen auf der Leinwand ausgeliefert zu sein. Alleine im Kino zu sitzen hat auch den Vorteil, dass niemand Zeuge meiner möglicherweise peinlichen körperlichen Reaktionen auf überwältigende Leinwanderlebnisse wird. Es heißt zwar „Boys don't cry“, aber für mich gilt das nicht. Mir hat der Film abwechselnd eine Gänsehaut über den Rücken und Tränen in den Augen getrieben. Danach bin ich wie ferngesteuert ins Freie gestolpert und hatte das Gefühl, dass der Film noch stundenlang in meinem Kopf weiterläuft. Und ich war sehr froh, dass mich niemand angesprochen hat. Denn ich war schlicht sprachlos.
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CHRISTIAN: Auf eine bestimmte Weise passt der Film für mich zu all den Portraits verstörter Männer, die uns bislang 2012 schon im Kino begegnet sind, von "Drive" bis "Shame", demnächst kommt ja auch der Survivalthriller "The Grey" mit einem suizidären Liam Neeson auf uns zu. Was ist mit den Männern der Gegenwart los, dass ihnen solche existentiellen Dramen gewidmet werden?
SEBASTIAN: Nach all den verweichlichten Männerfiguren der vergangenen zwei Jahrzehnte, holt nun der Weltschmerz auch die ganz harten Jungs ein. Als zauberhaft psychotischer Schub. Als Mission. Als große Selbstzerstörungs-Nummer. Untergang als großes letztes Aufflammen. Ganz unaufgeregt mit vollem Pathos. Ein Selbstmord-Kommando. Da ist man gerne dabei.
HARALD: Auf den ersten Blick gehen Ryan Goslings namenloser Driver, Michael Fassbenders sexsüchtiger Bürohengst und Michael Shannons paranoider Working Class-Familienvater als maskuline, scheinbar virile Männertypen durch. Du, Christian, hast ja schon in der letzten Kaminplauderei die These aufgestellt, dass diese Männer in Wahrheit an einer bestimmten Form von Impotenz leiden.
CHRISTIAN: Das ist halt ein Gedanke, der auf der Hand liegt, vielleicht zu naheliegend auch.
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HARALD: Der Küchenpsychologe in mir möchte diesen Gedanken gerne weiterspinnen: Goslings Driver kompensiert seinen - aus welchen Gründen auch immer - unterdrückten Sexualtrieb durch coole Männlichkeitsrituale (geile Autos fahren - der Sex der Arbeiterklasse) und unkontrollierte Gewaltausbrüche. Brandon aus „Shame“ hat ständig mechanischen Sex mit Prostituierten oder sich selbst und seinen Pornovideos am Laptop. Doch sobald einmal Emotionen im Spiel sind, versagt er kläglich.
SEBASTIAN: An Brandons Sex in „Shame“ ist doch nichts mechanisch. Der brennt, verbrennt sich. Auf höchster Stufe. Für mich ist das hoch-emotional.
HARALD: Sehe ich ganz anders. In Brandons Leben gibt es nur Kälte und Leere. Seine Obsession hat auch nichts Lustvolles; Sex ist für ihn nur ein Mittel, um dem emotionalen Vakuum für kurze Zeit zu entfliehen. Lustvoll und sinnlich fand ich lediglich die Ausstattung, die Kamera, die Farben, die Bilder.
CHRISTIAN: Anyway, den schleichenden Realitätsverlust von Curtis in „Take Shelter“ siehst du auch in dieser Richtung?
HARALD: Ihm ist die Sexualität gleich vollkommen abhanden gekommen. Vielleicht im Laufe einer langen, in Gewohnheit und Routine erstarrten Ehe. Beim täglichen mühsamen Abstrampeln in einem auch körperlich zermürbenden Job. Oder bei der hingebungsvollen Aufopferung für das kranke Kind, für dessen Wohlergehen man die eigenen Wünsche und Bedürfnisse so lange hintenanstellt, bis sie verschwinden. Dabei behandelt seine Frau ihn eigentlich immer noch sehr liebevoll und hätte wohl auch noch sexuelles Interesse an ihm - was ja nach sechs oder sieben Ehejahren keineswegs selbstverständlich ist. Zumindest interpretiere ich ihre Klage "You never come to bed" dahingehend, dass sie durchaus noch Lust hätte, ihren Partner körperlich zu spüren. Aber Curtis ist unter dem allgegenwärtigen Druck, der auf ihm lastet, und unter der Frustration, die an ihm nagt, längst zusammengesackt.
SEBASTIAN: Curtis verliert die Kirche, das familiäre Sonntagsfrühstück zunehmend aus den Augen. Hebt er da im Garten doch längst eine ganz eigene Kathedrale aus. Genau von dieser hoffe ich 2012 noch mehr zu sehen, wenn Ulrich Seidl ganz unverklemmt „Im Keller“ die Kamera aufbaut. VorfreudeDeluxe.
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CHRISTIAN: Aber ist es wirklich nur der unerfüllte Sex, der Curtis an den Punkt des totalen Entgleitens treibt, wie du jetzt eben angedeutet hast, Harald? Der große Sturm, den er bedrohlich herannahen sieht, steht doch nicht bloß für eine unterdrückte Libido oder?
HARALD: Das Gros der amerikanischen Kritiker haben den Sturm - naheliegend - als Metapher auf die große Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 interpretiert, in deren Folge hunderttausende Familien aus der unteren Mittelschicht ihre Häuser verloren. Und auch Regisseur Jeff Nichols gab in Interviews zu Protokoll, dass ihn die Gefahr einer Wirtschaftskatastrophe mehr alles andere ängstige. Im Film verknüpft er auch sehr geschickt die imaginierte Katastrophe mit der realen Bedrohung einer Kleinfamilie durch wirtschaftliche Zwangslagen. Je mehr sich Curtis' mentaler Zustand verschlechtert, desto mehr rücken Zahlen, Preisvergleiche, Finanzplanungen, Preisschilder, Versicherungs- und Bankangelegenheiten ins Zentrum der Erzählung. Das Haus gehört der Bank, das Auto ebenfalls, und selbst die möglicherweise rettende Psychotherapie scheitert von Anfang an den Kosten.
CHRISTIAN: Für mich war dieser ökonomische Horror schon zentral, aber mich hat ja auch „Margin Call“ mehr geängstigt als jeder Torture-Porn-Streifen. Aber weil wir vom Schrecken reden - was war für euch der beklemmendste Moment inmitten des langsam ausbrechenden Chaos in Curtis' Gefühlswelt?
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SEBASTIAN: Ich war recht schnell von der unerhörten Aufdringlichkeit des Regens fasziniert. Von dieser Unausweichlichkeit, mit der auf alles fällt. Wie hilflos man dem nur gegenüberstehen kann. Als würde man von oben bespuckt und da ist nichts wogegen man seinen Zorn richten könnte. Im Gegenteil, plötzlich schwappt diese Hilflosigkeit dann in alles rein. Nagt dir der Familienhund die Hand auf, wird dir alles entrissen und du sollst hilflos zuschauen. Kein Wunder bricht da alles auf.
HARALD: Von den vielen beklemmenden Momenten haben sich bei mir zwei Szenen besonders intensiv in die Netzhaut eingebrannt: Eine war der Albtraum mit dem Erwachen im nassen Bett. Das war der Moment, in dem seine Paranoia endgültig vom Geist auf den Körper übergegriffen hat. Der Donner in seinem Kopf, die Wolkentürme und Blitze vor seinen Augen, der ölige Regen in seinen Händen, die hat ja nur er alleine wahrgenommen. Aber diesen Urinfleck, den konnte er vor seiner Frau nicht mehr verstecken. In diesem Moment war klar: Der hart arbeitende Blue Collar-Worker, der sich hauptsächlich über den intakten, starken Körper definiert, der funktioniert nicht mehr. Die Scham, die Verzweiflung in Michael Shannons Gesicht, das war Beklemmung pur.
CHRISTIAN: Allerdings. Bei der Szene im Bunker gegen Ende, über die ich wirklich nicht zu viel verraten möchte, habe ich mitgefiebert wie schon bei kaum einem anderen Film in letzter Zeit.
HARALD: Ganz schlimm war auch der Autounfall, als seine Tochter von diesen gesichtslosen Gestalten aus dem Wagen gezerrt wurde. Es hat wohl damit zu tun, dass ich selbst eine Tochter im selben Alter habe wie Curtis im Film, dass mir diese Szene dermaßen durch Mark und Bein gegangen ist. Was in Curtis daraufhin vorgeht, dass ihm klar wird, dass er seine Liebsten schützen muss, koste es was es wolle – Geld, die Achtung seiner Freunde, seinen Job, letztlich die Existenz, all das konnte ich in diesem Moment fühlen. Auch wenn mir die handwerklichen Fähigkeiten zum Bau eines Bunkers weitgehend fehlen, würde ich, wäre meine eigene Familie bedroht, wohl kaum weniger manisch und getrieben agieren als Curtis.
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SEBASTIAN: Wir haben über die Männer geredet, lasst uns die Frauen an ihrer Seite nicht vergessen. Jessica Chastain, neulich noch in „Tree Of Life“ engelsgleich fast am davon schweben, hier nur etwas standfester. Trotzdem, warum sind es gerade immer diese leicht marmoriert, zart leuchtenden Frauen, die diesen Männern irgendwie dann doch noch so was wie Halt geben? Lucy Walters, das Mädchen aus der U-Bahn vor wenigen Wochen in „Shame“ ist ja ein ganz ähnlicher Typ.
HARALD: Ja, eine sehr starke und geerdete Frauenfigur, die im Film das Familiengefüge zusammenhält. Der Gegenpol zu labilen, wahnhaften, leidenden Mann. In diesem speziellen Fall kommt noch dazu, dass Jessica Chastain selbst aus einer Familie der unteren Mittelklasse stammt: Sie kennt das Milieu sehr gut, und ich glaube, das merkt man dem Film auch an.
CHRISTIAN: Die plötzlich omnipräsente Jessica Chastain, sie wird uns noch in Filmen von Al Pacino (als Regisseur), John Hillcoat und abermals Terrence Malick in der nahen Zukunft begegnen. Die feministische Kritik hat sich an ihrem Muttertypus in „Tree Of Life“ ja extrem gestoßen, von wegen Übererfüllung sanfter Weiblichkeitsklischees. Ich fand sie aber in beiden Filmen sehr stark, schauspielerisch und was die Figuren anbelangt. Vor allem diese Frau an der Seite des manischen Michael Shannon strahlt eine ganz eigene Energie aus. Wenn man den Film als Portrait einer gesellschaftlichen Befindlichkeit in den Nullerjahren betrachtet, dann sind es die Frauen, diese nie aufgebenden Jessica Chastain Charaktere, die auf dem untergehenden Schiff den Ton angeben, während den Männern die Sicherungen durchknallen.
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HARALD: Einen Gutteil der beunruhigenden Wirkung bezieht der Film aus den Traumsequenzen, die sich visuell und akustisch kaum vom Rest der Handlung unterscheiden. Jeff Nichols weigert sich auch, wie im Genre-Kino unserer Tage üblich, die Schock-Dosis kontinuierlich zu steigern. Wie habt ihr als große Liebhaber des Genre-Kinos diese Zurückhaltung empfunden?
SEBASTIAN: Mir war das oftmals immer noch zuviel. Gerade im theatralischen Aufschrecken aus dem Traum, war mir das oft zu über deutlich markiert. Da waren mir die subtilen, vor allem akustischen Wirklichkeitsüberlagerungen näher.
CHRISTIAN: Für mich hat alles genau gestimmt. „Take Shelter“ gehörte zu den wenigen Filmen in meinem Leben, die meine eigene Befindlichkeit wirklich zum Schwanken brachten. Todd Haynes ist das seinerzeit auf ähnliche Weise mit „Safe“ bei mir gelungen, diesem Portrait einer Frau, die plötzlich mit einer Unzahl von Allergien auf die Welt reagiert. Es ist die Mischung aus sozialem Realismus und halluzinatorischer Momenten, die bei mir so eingefahren ist. Das tatsächliche Schlussbild war dann eher eine Art Entwarnung für mich: It’s only a movie.
HARALD: Fast unmöglich, über dieses Schlussbild zu sprechen, ohne zu spoilern. Wie seht du das, Sebastian: Wertet das Ende den Film auf oder nimmt es dem Film gar etwas von seiner Wirkung?
SEBASTIAN: In Christoph Hochhäuslers wundervollem Film „Unter dir die Stadt“ kommt das Ende, wie ich glaube, dass es uns tatsächlich holen wird, nämlich einfach so. Da war mir das in „Take Shelter“ fast zu viel Wagner. Wegen der Kinderbuchszene zuvor, hatte ich zudem erwartet, ganz theatralisch Wale angeschwemmt zu sehen. Dann Lebertranregen. Schön fand ich diese letzte Einstellung auf die nach oben gerichtete Handfläche. Da war es dann doch wieder, das Unweigerliche. Schön.
CHRISTIAN: Danke für dieses Gespräch.
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