Erstellt am: 25. 3. 2012 - 13:49 Uhr
Julya Rabinowich in der FM4 Bücherei
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Gäste der FM4 Bücherei
Die FM4 Bücherei ist keine herkömmliche Bücherei, in der man Bücher ausleiht, sondern eine, in der Bücher vorgestellt werden.
Der oder die BesucherIn der FM4 Bücherei stellt seine oder ihre drei Lieblingsbücher vor, bzw. Bücher, die man lesen sollte.
Diesmal zu Gast: Julya Rabinowich
Ihre Eltern seien ziemlich krank gewesen, meint Julya Rabinowich trocken, sie hätten ihr als Sieben-Jährige bereits Bulgakow vorgelesen. Damals seien sie von St. Petersburg nach Wien ausgewandert und dort habe sie aus Langeweile und aufgrund mangelnder Alternativen Klassiker der Weltliteratur gelesen. Sie wollte Deutsch lernen, nicht zuletzt, damit sie sich in der Schule wehren konnte. In der FM4 Bücherei erzählt sie aber auch von ihrer Tätigkeit als Simultanübersetzerin bei Psychotherapien.
Und natürlich stellt sie ihre drei Lieblingsbücher vor.
bereuter/rabinowich
Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita
Sammlung Luchterhand
"Die Geschichte ist mehr als grotesk und sehr absurd und dazu noch politisch. Es ist einerseits eine sehr, sehr berührende Liebesgeschichte. Es ist gleichzeitig eine sehr harte Abrechung mit der UdSSR unter Stalin und gleichzeitig ein Versuch, die Geschichte von Jesus Christus auf eine realistischere Art zu erzählen. Es sind also eigentlich drei absolut unvereinbare Stränge, die aber gemeinsam ein grandioses Buch ergeben, das für mich alle Höhen und Tiefen hat, die ein grandioses Buch zu haben hat. Und Witz und absolut absurde herrliche Situationen und natürlich auch tragische.
Der Teufel kommt wie alle 100 Jahre in die Menschenwelt und hält seinen Ball ab. Das macht er schon seit Jahrtausenden und diesmal ist seine Wahl auf das Moskau der 1930er Jahre gefallen. Also unter Stalin, wo gerade absoluter Gottverzicht, Teufelsverzicht und Parteitreue das Wichtige waren und die Menschen sich auch dementsprechend gebärdet haben, wie sie sich in einer Diktatur eben gebärden.
Der Teufel kommt mit drei Dämonen, die ihn begleiten, die eigentlich die meiste Zeit das Komischste im Buch darstellen, bis das gegen Ende kippt und sie dann doch furchterregend werden. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist Margarita, die ihren Liebhaber verloren hat - gerade als sie ihren Mann für ihn verlassen wollte. Er ist verschwunden, sie weiß nicht, wo er ist und sucht ihn schon seit Jahrzehnten. Sie hat die Hoffnung schon fast aufgegeben, ist mittlerweile eine alternde Frau. Sie ist bereit alles zu riskieren, um diesen Mann wieder zu finden, der ein Dichter war. Ein Dichter und ein Schriftsteller, der eben die Geschichte von Jesus niedergeschrieben hat, wie er sie sich imaginiert hat. Ein sehr naiver Mann wird da gezeichnet als Jesu von Nazareth, der wirklich nur an das Gute im Menschen glaubt und die politischen Verwirrungen jener Zeit überhaupt nicht richtig einzuschätzen weiß, also weder Gottes Sohn noch etwas Abgehobenes ist, sondern ein Träumer, der die Welt verändern will mit seinen Träumen. Also das Gegenprogramm zu Stalin."
Arkadi und Boris Strugazki: Picknick am Wegesrand
Suhrkamp Verlag
"So wie die Gebrüder Grimm gab's in Russland die Gebrüder Strugatzki. Die hat in Russland jeder Teenie, jeder Erwachsene gekannt. Sie haben eine Reihe sehr spannender Science Fiction-Geschichten geschrieben, die sich stark unterschieden haben von denen, die damals im Westen üblich waren.
Es war weniger technisch, es war mehr fantastisch auf eine Art und es war gefühlvoller. Diese anderen Welten haben sich einfach komplett anders angefühlt, organischer, fleischlicher. Da war weniger diese kühle Technik als das anderartige, eigenartige, nicht menschliche.
Die berühmteste Geschichte von ihnen heißt 'Picknick am Wegesrand'.
Einerseits ist es ein Portrait einer Familie, der Stalkers.
Die Stalkers sind Menschen, die in verbotene Zonen vordringen, die von der Regierung abgesperrt worden sind, weil dort außerirdische Aktivitäten stattfinden. Diese Aktivitäten sind nie genau beschrieben, sie sind völlig absurd, wirklich nicht menschlich und der menschlichen Logik nicht begreiflich und sehr, sehr real geschildert. Es sind Orte, die sich verändert haben. Die gibt es auf der ganzen Welt. Es sieht so aus, als ob die Erde beschossen worden wäre und rund um diese Einschüsse sich unirdische und unmenschliche Bereiche geöffnet hätten, die nach ganz anderen physikalischen Gesetzen funktionieren, wo man nicht weiß, wie die Schwerkraft wo ist, wo teilweise Wiedergänger aus verstorbenen Menschen herumstreunen, teilweise überhaupt ganz andere Wesenheiten entstanden sind. Aber es ist alles verlassen. Es ist so, als ob die Aliens kurz da gewesen wären, eine Art Experiment veranstaltet hätten und dann wieder abgezogen sind. Und das, was davon übrig geblieben ist, sind nur diese abartigen, eigenartigen Orte, die die Menschen nicht einordnen können.
Die Stalker sind die, die verbotener Weise in die Zone reingehen, um auf Bestellung, so wie Kunsträuber, Gegenstände für Wissenschaftler hinauszustehlen. Keine Rebellen, aber so piratenartige Einbrecher, Halbkriminelle aber doch sehr wagemutige Menschen sind sie, da sehr, sehr viele nicht zurückkommen. Der Hauptheld ist so ein ziemlich verkrachter Stalker, der ein Kind hat, das bereits beginnt, sich in eine Wesenheit zu verwandeln, weil er zu oft drüben gewesen ist und das Kind gezeugt hat, wie er bereits selber von dieser Zone durchdrungen gewesen ist. Und er sucht in der Zone einen angeblichen Ort, wo alle Wünsche in Erfüllung gehen. Alle wissen, dass es diesen Ort gibt, aber man dringt nicht bis zu ihm vor, weil es so gefährlich ist und ich kann jetzt leider nicht verraten, warum er ihn sucht. Das ist am Ende dann nämlich doch ganz anders."
Paulus Hochgatterer: Das Matratzenhaus
deuticke verlag
"Das ist das Buch, das mich von den jüngst in Österreich erschienenen Büchern am meisten gepackt und auch beeinflusst hat. Das finde ich ganz großartig, auch in der Brutalität, in der Tatsachen angesprochen werden, die sonst gerne unter den Teppich gekehrt werden – unter falscher Empörung, falscher Rührung oder auch einfach unter Totschweigen.
Das Buch handelt von gut organisiertem Kindesmissbrauch und von mehreren Opfern dieses Kindesmissbrauchs. Eines der Kinder ist schon fast erwachsen und damit nicht mehr interessant für die Missbraucher. Das andere ist frisch dazu gekommen und wird von dem älteren Kind als Geschwister adoptiert. Es ist eine sehr rührende Beziehung zwischen diesen beiden 'Schwestern', wie sie sich dann nennen. Das Buch hat kein Happy End und ist wahnsinnig brutal in dieser Offenheit.
Das Buch zeichnet kindliche Psyche auf faszinierend intensive und wahrhaftige Art und Weise aus. Es ist gleichzeitig fast wie ein Krimi zu lesen und hat auch die Spannung eines Krimis obwohl es für mich natürlich kein Krimi ist. Es wird aus mehreren Perspektiven erzählt: eines Ermittlers, eines Psychiaters und eines der Kinder. Und es hat, damit schließe ich bei 'Meister und Margarita' an, auch diese drei Handlungsstränge, die eigentlich voneinander getrennt sind, aber gemeinsam verflochten ein irrsinnig intensives Leseerlebnis bescheren. Das einen, alles in allem einen einfach nur still und schweigend zurück lässt, wenn man dann das Buch zugeklappt hat."
Die FM4 Bücherei mit Julya Rabinowich gibt es am Sonntag, 25. März, in FM4 Connected (13-17 Uhr) zu hören.