Erstellt am: 24. 3. 2012 - 12:47 Uhr
Ein Teil des großen Ganzen
Diagonale - Festival des österreichischen Films:
20. - 25. März 2012, Graz.
Ich fühle mich verarscht!", sagt eine junge Frau im Publikum im großen Saal des KIZ Royal Kino aufgebracht ins Mikro. Hans Weingartner will Fiktion und Realität gleichwertig nebeneinander stehen sehen und spielt mit dieser Anschauung in seinem neuen Film "Die Summe meiner einzelnen Teile". Die junge Frau pocht darauf, dass etwas, das sie im Film gesehen hat, doch in der Geschichte tatsächlich existiert und keine Einbildung war. "Genau so fühlt sich Martin!", kontert Weingartner. Mit "Die Summe meiner einzelnen Teile" zeichnet der Regisseur ein Porträt eines Mannes, diesem Mathematiker Martin Blunt, der nach einem halben Jahr Psychiatrie im gewöhnlichen Alltag nicht mehr zurecht kommt.
Wild Bunch Germany
Keine Angst
Ein Bub, ein Mann und der Wald. Bei der diesjährigen Diagonale könnte einen diese Konstellation ängstigen. Doch mit Kindesmissbrauch hat der Film absolut nichts zu tun.
Das Dilemma der Diagonale: 131 Filme in 5 Tagen! All die Kurzfilme, experimental-, dok- und Spiel-, ich will sie alle sehen. Und dann doch der Gedanke, sich wieder auf "die Großen" zu konzentrieren". Weil: Wenn der 3-Minüter herrlich ist, doch in nächster Zeit nur dem Festivalpublikum vorbehalten ist, ist das für alle anderen Interessierten ärgerlich.
"Die Summe meiner einzelnen Teile" ist herzzerreißend. Hans Weingartner hat sich wie vor zehn Jahren in seinem Debüt "Das weiße Rauschen" ganz auf die Psyche eines Menschen konzentriert. Und er übersetzt diese Innerlichkeiten in jedem Bild nach außen und erschließt sie. Doch nie gänzlich, und schreckhafte ZuschauerInnen könnten mehrmals überrascht zusammenzucken. Das hat mit einem Trick zu tun, den Weingartner beim Publikumsgespräch verriet: Die Erzählperspektive ist bewusst nicht allwissend. Will für die Arbeit am Set heißen: Die Kamera ist stets hinter Martin und überholt ihn nie. Biegt er um die Ecke, folgt sie ihm.
Peter Schneider als Martin Blunt ist wunderbar. Timur Massold schließt man ab der ersten Pfandflasche, die der Bub aus einem Müllkorb zieht, ins Herz. Hans Weingartner beobachtet das Leben in einer großen Stadt und doch am Rande der Gesellschaft, und er übertreibt nicht. Wenn an den Wänden in einem leerstehenden alten Gebäude Sprüche als Graffiti zu lesen sind, denkt man an "Die fetten Jahre sind vorbei". Diesmal verpackt der gebürtige Feldkircher Weingartner, der seine Filmfirma in Berlin betreibt, seine Botschaften subtiler - "Keine Angst". Und punktet.
Wild Bunch Germany
Das "Normale" wird meist nur vorgetäuscht
"Das weiße Rauschen" zählt zu meinen Allzeit-Lieblingsfilmen. Seit unter den ersten Reaktionen beim Kinostart in Deutschland zu "Die Summe meiner einzelnen Teile" Psychologen Weingartner eine akkurate Darstellung attestierten, war ich neugierig.
Kahuuna Films
Hans Weingartner hat vor Beginn seines Studiums an der Kölner Kunsthochschule für Medien zunächst Physik, Gehirnforschung und Neurochirurgie in Wien und Berlin studiert. Es gibt ein konkretes klinisches Krankheitsbild zu Michael Blunts Verhalten, von dem Weingartner bei der Arbeit am Film ausgegangen ist. Doch "Die Summe meiner einzelnen Teile" sollte keine Fallgeschichte werden, erklärt Weingartner.
Ein Interview. Spoiler-frei.
Was reizt Sie an der Darstellung psychischer Extremzustände?
Erstens kenne ich mich damit aus, weil ich selbst ständig zwischen Extremen pendle. Mein Psyche fährt leider ziemlich gern Achterbahn. Zweitens: das "Normale" erlebt man ja tagtäglich bei seinen Mitmenschen - auch wenn die "Normalität" meist nur vorgetäuscht wird, denn der soziale Anpassungsdruck verlangt ja von uns, uns nach außen hin möglichst normal zu geben, selbst wenn in uns der Sturm tobt. Und für mich persönlich ist das Kino der Ort, an dem das Außergewöhnliche und Nichtalltägliche stattfindet und stattfinden muss.
Worin liegt die große Herausforderung für Sie als Filmemacher, eine Geschichte aus der Psyche einer Person heraus zu erzählen?
"Die Summe meiner einzelnen Teile" startet
am 29. März in den österreichischen Kinos.
Darin, dass es verdammt schwer ist, innere Zustände zu visualisieren. Gedankenfetzen, Träume, Stimmungen, Assoziationen, Wahrnehmungen - wie bringe ich die Aktivität von 300 Milliarden Neuronen auf die Leinwand? Ohne eine Kakaphonie zu erzeugen, ein weißes Rauschen, die Nullinformation? Und noch schwieriger: Wie schaffe ich es, dass der durchschnittliche Kinozuschauer es versteht, einen emotionalen Zugang findet in diese Welt des psychisch Anderen? Es ist ein ständiges Ringen. Viele Zuschauer, interessanterweise vor allem Männer, verschließen sich. Gerade für Männer war es evolutionsbiologisch ja sehr wichtig, stabil und so normal wie möglich rüberzukommen. Männer kommen meist erst in die Praxis, wenn die psychischen Beschwerden somatisch werden.
Und daran schließt die Frage: Wie machen Sie das?
Der Ausgangspunkt muss die Psyche des Schauspielers sein. Da muss man gemeinsam graben, und zusammen dann das Außen entwickeln. Man nimmt also die kleinen Defekte und Abgründe, die jeder von uns hat, und baut sie aus. Im Laufe des Drehs kommt dann das Fine-Tuning. Es soll schließlich nicht klischeehaft werden und vor allem: Das Geheimnis muss gewahrt bleiben! Nicht alles preiszugeben, das ist die stärkste Macht des Schauspielers. Damit fesselt er die Zuschauer. Wenn er im Film dreimal mit den Augen zuckt, ist das tausendmal faszinierender als wenn er durchblinzelt. Die meisten Hollywood-Schauspieler spielen Autisten, wenn sie Schizophrene spielen sollen, so wie Russel Crowe in "A beautiful Mind", völliger Quark. Schizophrene sind fast nie autistisch, eher das Gegenteil.
Heute Abend werden auf der Diagonale 2012 die Preise verliehen. Und danach wird bei der Diagonale Nightline in der Postgarage gefeiert. Musikalisch passend begleitet vom V-Team (Seayou Records).
Gibt es nicht wichtigere Themen als das Zurückgeworfen-Sein des Einzelnen auf sich in unserer Gesellschaft, die so gerne post-allem wäre?
Für mich handelt der Film eher davon, zivilisatorischen Ballast abzuwerfen, sich im Wald zu enthäuten, in seine Einzelteile zu zerlegen und neu zusammenzusetzen. Es geht um den Kampf eines Menschen um die Freiheit, der sein zu können, der er wirklich ist, auch wenn der nicht passt. Er verweigert die Psychopharmaka, stellt sich gegen die Norm und wird verstoßen. Doch gerade dadurch findet er zum Glück.