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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

23. 3. 2012 - 15:05

Heartcore

Zwei Mal Liebe oder was sie dafür hielten: Umut Dags Langspielfilmdebüt "Kuma" und Ruth Maders Dokumentarfilm "What Is Love" hatten Österreich-Premiere auf der Diagonale.

Diagonale - Festival des österreichischen Films:
20. - 25. März 2012, Graz.

Ein Vorspann vor der ersten feierlichen Schwarzblende drängt sich vor: Es wimmelt vor sympathischen Menschen vor den Diagonale-Kinos und erst innendrin, an den Kassen, in den Foyers und in den Trauben vor dem Saal-Einlass. Bei aller Tristesse, die dem österreichischen Film gern nachgesagt wird: Sein Publikum strahlt voll aufgeweckter Freundlichkeit. Film verbindet und das wird auch hoffentlich der nächste Sponsor in spe der Diagonale checken.

Die ersten Preise!

Bevor noch mehr Gefühle hochkommen: Die ersten Preise wurden heute in Graz im Rahmen der Diagonale verliehen! Markus Schleinzer freut sich über den Thomas Pluch Drehbuchpreis für sein Treatment zur Pädophilie-Täter-Studie "Michael". Und Sebastian Meise und Thomas Reider ("Stillleben) teilen sich mit Stefanie Franz ("Papa") den Thomas-Pluch-Würdigungspreis.

Der mit 14.500 Euro dotierte Carl-Mayer-Hauptpreis geht an Christoph Brunner und Kevin Lutz.

Das ist deswegen keine unbedeutende Meldung, weil man als österreichische/r Filmemacherin mit 15.000 Euro "ganz schön lange leben kann", wie Festival-Intendantin Barbara Pichler vor Kurzem klarstellte. Und Leben können bedeutet nichts Anderes als: Nicht unbezahlt Monate und Jahre für Filmprojekte Vorarbeiten zu leisten. Treatments erarbeiten und Drehbücher schreiben. Die Produktionsbedingungen sollten auch dem Publikum nicht egal sein.

Ihr wollt einen Liebesfilm? Ihr kriegt einen Liebesfilm.

"Kuma" stößt einen vor den Kopf. Kuma ist türkisch und bedeutet Zweitfrau. Der junge Regisseur Umut Dağ fokussiert in seinem Langspielfilm-Debüt auf vier Frauen in einer österreichischen-türkischen Familie. "Die haben was beinand", könnte man sich denken. Dass der älteste Sohn zu Beginn mit einer ihm nicht allein geografisch fernen jungen Frau in der Türkei verheiratet wird, erregt noch nicht die Gemüter im vollbesetzten Kinosaal. Diese Geschichten sind bekannt. Doch als sich die Ehe in Wien als bewusst gewählter und somit doppelter Schein erweist, folgt man dem Geschehen voll Aufmerksamkeit: Mutter Fatma hat die junge Ayse mit dem Püppchengesicht nicht als Frau ihres Ältesten nach Wien geholt, sondern als "Kuma" für ihren Mann.

Die Inhaltsangabe sollte man vor dem Kinobesuch tunlichst meiden. Zu kurz greift die Zusammenfassung in fünf Zeilen. Ayses Ankunft in Wien fordert Loyalitäten heraus. Das Spannungsfeld zwischenmenschlicher Beziehungen wird strapaziert durch Brüche in den Kulturen und Identitäten. Mit ungeahnter Wucht überholen Anschauungen die Charaktere.

Filmstill aus "Kuma": Drei junge Frauen mit Kopftüchern beraten sich

Wega Film

"Kuma" eröffnete diesen Februar das Panorama der Berlinale.

Nur ein bisschen ist, wie es scheint

Umut Dağ gelingen in seiner Geschichte, die Petra Ladinig nach seiner Idee geschrieben hat, drei unerwartete, clevere Wendepunkte. Dann wieder wird die Handlung vorhersehbar. Unangenehm ist das nicht, viel mehr erzählt Dağ passagenweise populär auf geschickte Weise.

Die Tradition hat die Familie fest im Griff. Im Haus hat die erste Frau und Mutter das Sagen. Ihre Krebserkrankung dient ihr bewusst oder unbewusst als Freibrief. Die Mutterliebe artet zu einem erpresserischen System aus, dem jedes Kind seinen Tribut zu zollen hat. Die Zuneigung zum Ehemann ist glaubhaft, doch in der ersten Nacht in ihrer neuen Heimat soll Ayse mit dem Mann die Ehe vollziehen. So will es die kranke Fatma. Was geht in einer Frau vor, die ihrem Mann eine andere Frau zuführt, ja regelrecht aufzwingt?

Die Mutterfigur Fatma überschreitet die Grenzen zum Guten. Das Festhalten an Traditionen schützt die Familie nicht, sie schadet ihr. Und Ayse, die Frau ohne Bedürfnisse, könnte einen fast wütend machen. Der einstige Haneke-Student an der Wiener Filmakademie Umut Dağ bietet mit "Kuma" unterhaltende Aufregung. Ein bisschen Verliebtsein darf doch auch sein und endlich will Ayse küssen. So richtig. Das Unglück will zurückgeschlagen werden. "Kuma" ist eine andere Art von Liebesfilm.

Filmstill aus "Kuma": Frauen mit Kopftuch und Kindern überqueren straße

Wega Film

Die Sache mit der Liebe hat man sich anders gedacht

Ruth Mader wagt ein Experiment mit ihrem neuen Film "What Is Love", der als Dokumentarfilm läuft und dabei inszeniert ist. Die Personen im Film stellen ihre realen Lebensumstände dar. Die Dialoge sind wortwörtlich aus dem Leben gegriffen. Die Protagonisten mutieren zur Statisten. Die Machart von "What Is Love" verschiebt die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation, und sie zieht eine eigenartige Entfremdung der Protagonisten nach sich.

"Lieben wir uns noch?" - "Gute Frage". Daraufhin verlangt eine Ehefrau nach einer Einschätzung ihres Mannes auf einer Skala von eins bis zehn. Alltag fressen Liebe auf. Da werkt der Mann lieber an der Baumhütte als mit der Frau die rare Freizeit zu verbringen. "Walter, die Familie gibt es bald nimmer mehr". Paartherapeutische Einheiten gestalten sich ebenso distanziert wie das Gespräch eines Pfarrers mit Gemeindemitgliedern bei Kaffee und Kuchen. Schweigen als Konfliktlösung.

Für mindestens zwei ist die Wohnung einer Dreißigjährigen ausgestattet, doch selbst am Esstisch ihrer Schwester mit Kleinkind wirkt die hübsche Blonde komplett allein. Form und Inhalt sind perfekt abgestimmt. In Tableaus erzählt, wird der Kamera (Jörg Gönner) keine Bewegung erlaubt und niemandem gefolgt geschweige denn nachgeschaut.

Filmstill aus "What is Love": Eine Dreißigjährige blickt traurig ins Leere

KGP

Vieles in Ruth Maders Film verweist auf Verluste, die nicht einmal mehr kompensiert werden wollen. Die Menschen sind sehr bei sich, viel mehr, als ihnen lieb ist, und verharren doch.

Premiere hatte "What Is Love" auf der diesjährigen Berlinale im "Forum". Bereits bei ihrem Werk "Struggle" über Arbeitsbedingungen ging Ruth Mader semi-dokumentarisch vor. Dass es fast ein Jahrzehnt gedauert hat, bis wieder ein Film von ihr zu sehen ist, liegt an einem Projekt, das nie ausfinanziert wurde und so in Buchform liegen bleiben musste.

Heute: FM4 Sondersendung zur Diagonale!

Live aus Graz: FM4 Spezial zur Diagonale 2012, heute Freitagabend, 19.00 - 21.30.

Live aus dem Foyer des Kunsthaus Graz, dem Festivalzentrums der Diagonale, melden sich heute Abend Petra Erdmann und Martin Pieper. Die FM4 Filmredaktion bringt Antworten auf die drängendsten Fragen des diesjährigen Festivals des österreichischen Films in Diskussionen und Interviews.

Welche RegisseurInnen aus den zahlreichen Kurzfilmprogrammen behalten wir im Auge? Was haben junge Regie-Talente in naher Zukunft für sich vor? Warum sind mehr weibliche Filmschaffende vom Prekariat betroffen als ihre Kollegen? Verschiebt die Fiktion das Dokumentarische? Und wie begegnet man den existenziellen Exzentrikern Peter Kern und Hermes Phettberg? Und und und!

Zweieinhalb Stunden Diagonale kompakt.

Lonely Drifter Karen

Sandrine Derselle

Auch live und in Graz heute Abend: Lonely Drifter Karen.

Danach gingen sich noch Spätvorstellungen aus. Oder das Konzert von Lonely Drifter Karen bei der Diagonale Nightline in der Grazer Postgarage. Anschließend sind Trees*Traumhaft und Philipp L'Heritier das Dreamteam für die Dancefloor-Stunden.

Und morgen Abend findet dann auch schon die Preisverleihung statt. Die Tage in Graz haben nicht genug Stunden, um mit all diesen laufenden Bildern mitzuhalten. Hat jemand etwas auf der Diagonale gesehen, was er nicht für sich behalten kann? Immerzu her mit Empfehlungen, bitte!