Erstellt am: 22. 3. 2012 - 13:26 Uhr
Kurz bevor es eskaliert
Diagonale - Festival des österreichischen Films:
20. - 25. März 2012, Graz.
Es geht auch niedlich! Zwischen Momenten heftiger Eskalation im Alltag und guter Anspannung - auf der Leinwand im Kurzfilmprogramm Eins von Drei -, kocht eine verwirrte Omi um Mitternacht groß auf. "Der Besuch" von Conrad Tambour macht aus Demenz großes Kino. Der entzückende Animationsfilm lässt einen glucksen vor Vergnügen und innerlich mitfühlend "Mei!" ausrufen. Zurecht waren diese neun Minuten bereits auf internationalen Festivals zu sehen, unter anderem in Cannes.
Alles ist rund an der alten Dame, ihr Bauch, ihr Rücken und ihre großen Brillengläser. Die Herdplatten glühen und glühen. Die Linzers kommen heute garantiert nicht mehr, erklärt der zu Hilfe gerufene Sohn und dreht den Herd ab. Denn die Linzers wären 125 Jahre alt, die kämen nie mehr zur Türe herein. Sagt der Sohn und schaut wie ferngesteuert als erstes gleich mal in Mutters Kühlschrank, als hätte er Hunger. Jeder Handgriff stimmt, jede verdutzt hochgezogene Augenbraue trifft die Lage.
Filmakademie Baden-Württemberg
Die jungen Animationskünstler Johannes Schiehsl, Benjamin Swiczinsky und Conrad Tambour haben sich zusammengetan. Empfehlung für ihre Werke "Der Besuch", "366 Tage" und "Heldenkanzler", die morgen, 23. März, in Graz laufen.
Existentielles
Der erste volle Kinotag der Diagonale in Graz und schon geht es ans Existentielle. Wann warst du zuletzt bei Omi und Opa zu Besuch? Und an alle der Drei-Filme-pro-Festivaltag-sind-nicht-genug-Fraktion unter uns: Vergisst du an Festivaltagen auch auf Essen und Trinken? Vor der 23-Uhr-Vorstellung von "Der Papst ist kein Jeansboy" von Sobo Swobodnik bemerke ich, dass ich seit dem Frühstückstee dehydriere. Wie Hermes Phettbergs Alltag sich gestaltet, werde ich darum erst später erfahren. Swobodnik hat einen Dokumentarfilm über Phettberg und seinen Krampf und Kampf zwischen Geist und Körper gedreht. In Schwarzweiß.
Ein Ringen um Selbstbehauptung prägt auch Arash T. Riahis neuen Film "Nerven Bruch Zusammen". Nach dem bewegenden Drama "Ein Augenblick Freiheit" kehrte Arash T. Riahi mit der Kamera an den Arbeitsplatz seiner Zivildienstzeit zurück: In einem Wohnheim für obdachlose Frauen in Wien haut das Leben draußen die Bewohnerinnen immer wieder in die Goschn. Bei aller Tragik: "Nerven Bruch Zusammen" ist trauig, doch die Doku ist unterhaltsam und zieht einen nicht runter. Sie erzählt Lebensrealitäten, die einem sonst bevorzugt reißerisch präsentiert werden.
Unter den Frauen, die in "Nerven Bruch Zusammen", ihre Geschichte mit dem Kinopublikum teilen, ist Rula. Der Papa ihres Söhnchens hat sich ins seine Heimat Algerien verabschiedet. Ob auf Nimmerwiedersehen, das weiß man als Zuschauer noch nicht und bangt mit Rula. Zwei Söhne aus einer früheren Ehe hat ihr damaliger Mann mit sich genommen. Die junge Frau kam selbst aus Syrien nach Wien. Was ihre Familie von Alleinerzieherinnen hält, erfährt man beim ernsten Teegespräch im Kreis der Verwandtschaft. Diese Rula trägt ein Kopftuch vor Dankbarkeit über ihr Söhnchen und gibt noch mehrere Antworten auf Projektionen, die einem als ach so toleranter Mitteleuropäerin manchmal in den Sinn kommen.
Die Geschichte Rulas entwickelt sich zu einem Krimi. So sehr gelingt es Arash T. Riahi, einem diese Frauen und ihre Geschichten näher zu bringen. Als Svetlana, die unter mehreren Stimmen in ihrem Kopf und unter extremer Müdigkeit durch die Medikamentation leidet, am Ende im Heißluftballon abhebt, schauen die Umsitzenden geradeaus. Da baut sich gerade Tränenflüssigkeit in den Augäpfeln auf, lieber stillhalten, bevor sie loskullern kann.
Golden Girls Filmproduktion
Das Leben lieben und nicht die Hoffnung aus dem Blickwinkel verlieren, das vermittelt "Nerven Bruch Zusammen" unaufdringlich. Weil: Schwer genug ist vieles und warum man für Filme, die einen emotional in die Magengrube boxen und ohne einen Lacher zurücklassen, freiwillig ins Kino geht, kann man nicht nur Freunden von Romantic Comedies schwer erklären. Eine österreichische romantic comedy wünsche ich mir übrigens seit Jahren. Das wäre doch was!
Psychische und physische Ausnahmezustände, die nur noch schlimmer werden, zeigt Barbara Gräftner in ihrer Dokumentation "Die Sprache des Körpers". Muskelschwund, HIV und Krebs verändern und bestimmen das Leben dreier Frauen. Gräftner hat sie über Jahre mit der Kamera begleitet.
Den ZuschauerInnen verlang die Doku einiges ab. "Übelkeit", das ist ein vollgekotzter Kübel am Couchtisch. Wenn die jüngste der Frauen von ihrem Freund in einer öffentlichen Wiener Toilette zum Wasserlassen auf eine Decke gehoben wird und sich über Uringestank beschwert, kann man das Stechen in ihrer Nase förmlich spüren. "Ich wollte keine Belastung sein, aber ich bin es", sagt die 23Jährige unter Tränen.
Schonungslos offen fängt Gräftner das Leben mit letalen Erkrankungen ein, ohne ins Voyeuristische zu rutschen.
"Um einen Menschen herum spiegelt alles seine Geschichte", erklärt Barbara Gräftner ihre Zugangsweise. "Man braucht nur ein offenes Ohr, eine offene Kameralinse", sagt Gräftner, die vor dem Besuch an der Wiener Filmakademie Medizin studierte. "Wichtig ist, dass man sich aufgibt. Aufgibt, was man zu wissen meinte, und sich gleichzeitig dennoch im Klaren ist, dass alles, was man denken und zeigen kann, subjektiv ist und letztlich man selber." Frohe Momente sind rar. "Die Sprache des Körpers" ist auch für das Publikum ein enormer Kraftakt.
Muss österreichischer Film grundsätzlich eine gewisse Schwere transportieren?
Muss er nicht, behaupte ich. Gewicht verschaffen sich Erzählungen alternativ mit Spannung. Wenn die noch zu unterhalten vermag: Win!
Kino ermöglicht eine Auseinandersetzung mit Themen und Menschen, vor denen man sich im real life ängstigt. Mit ein Grund, warum auf der diesjährigen Diagonale in Graz der filmische Pädophilie-Doppelpack hoch im Ticket- und Gesprächskurs steht. Sebastian Meise und Thomas Reider haben kein Schauspielkind in einen Keller gesetzt (und das ist bitte kein Seitenhieb auf Markus Schleinzers Spielfilm "Michael", der morgen, 23.3. vormittags auf der Diagonale zu sehen sein wird und die Zeit wert ist). Die beiden Filmemacher setzen dort an, wo Pädophilie noch im Kopf stattfindet.
An der Berliner Charité begann vor Jahren eines der weltweit ersten Behandlungsangebote für Männer, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen und/oder Kinderpornografie konsumieren. Thomas Reider recherchierte weiter und traf Sven.
Nun begegnet das Festivalpublikum in "Outing" Sven, dem Archäologiestudenten mit dem freundlichen Gesicht, der so jung aussieht, dass er auch als Gymnasiast durchginge. Wenn Sven sich durch Bilder vom Nachbarjungen beim Basketballspielen klickt und seine Zuneigung ein Lächeln über sein ganzes Gesicht schickt, meldet sich die eigene Moral in Gedanken zu Wort. Ist das noch okay? Darf der das denn?
Dass "Outing" mit seinen engen Videokamera-Bildern, die sich wahrscheinlich aus Produktionsbedingungen ergaben - die Gespräche waren als Recherche angelegt - und nachträglich nicht perfekter die Isolation und Enge in Svens Leben spiegeln könnten, so besonders und gelungen ist, liegt in der Herangehensweise der Filmemacher. Pädophilie Menschen kamen im (deutschsprachigen) Film noch nicht und auch sonst kaum zu Wort. Und Sebastian Meise und Thomas Reider haben sich einen wertneutralen Umgang mit Sven verordnet. Damit heben sie die tabuisierte Veranlagung Pädophilie auf ein Diskussionsniveau, das die Problematik Kindesmissbrauch verschiebt. Was tun mit Menschen, die der Anblick von Kindern sexuell erregt?
FreibeuterFilm
Im Spielfilm "Stillleben" konfrontiert der Regisseur Sebastian Meise eine Familie mit dem verborgenen Begehren des Vaters. Und dreht die Fragestellung noch fester im Schraubstock der gesellschaftlichen Konventionen. Wenn der Vater sich an Urlaubsbildern der nackten Tochter im Kindesalter aufgeilt, ist das dann Kinderpornografie?
Anja Plaschg hat ihren ersten Kinoauftritt als Prostituierte, David Hebenstreit, den man als Musiker Sir Tralala besser kennt, entdeckt man im Sitzkreis beim Treffen anonymer Alkoholiker und der Burg- und Kinoschauspieler Christoph Luser ist als Bruder und Aufdecker der unterdrückten Neigung des Vaters professionell und überzeugend überfordert.
FreibeuterFilm
Auf lautlos einstellen. Nicht nur das Telefon.
Tipp für heute: Wenn dein Sitznachbar jede dritte Einstellung kommentiert ist er a) aufgeregt, weil er b) mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer der nächsten Szenen sich selbst im Film sehen wird oder c) ahnungslos in einen Film mitgenommen wurde und lieber in der Sonne plaudern würde. Effektiver als aggressives "pssst!" wirkt übrigens ein freundlicher Halbsatz. Wenn er oder sie aber beim Score mitzusummen beginnt: Das Smartphone zu zücken und das aufgeweckte Kerlchen ausleuchten wäre verlockend. Aber kindisch.
"Wo ist die Party? #Diagonale"
Weil bereits am Tag nach der Eröffnung einige schon wieder feiern wollten: Heute beginnt die Diagonale Nightline in der Grazer Postgarage. Mit einer audiovisuellen Reise des "Fool's Island Project" von The Karlbauers um 21 Uhr. Danach legt DJ Bellamy auf.