Erstellt am: 21. 3. 2012 - 11:49 Uhr
Selbstironie schadet nie
Diagonale - Festival des österreichischen Films:
20. - 25. März 2012, Graz.
Von "jüdisch-arisch-proletarisch" über "exzessiv-obsessiv" bis "Täter-Opfer" reicht der Rollenkosmos, der Johannes Silberschneider in seiner bisherigen Laufbahn der bewegten Bilder "erdrückt hat". Der Schauspieler bekam bei der gestrigen Eröffnung des Festivals des österreichischen Films, der Diagonale in Graz, den Großen Schauspielpreis verliehen. "Eigentlich müsste man den österreichischen Menschen danken. Für diesen bunten Figurenkatalog, für den seelischen Fundus der österreichischen Mentalität", stellte Silberschneider nach dem wunderbaren und lustigen Wordrap fest. Willkommen auf der Diagonale 2012, wie charmant selbstironisch ist das denn?
Joachim Gern
Es waren die vergnüglichsten Minuten dieses Eröffnungsabends. All das, was den österreichischen Film in seinen besten Momenten und seinen treffendsten Klischees ausmacht brachte Johannes Silberschneider in einem Satz auf den Punkt. Kurz zuvor hatte die Fotografin Elfie Semotan dem diesjährigen Preisträger eine sichtlich angeschleppte Holzbox überreicht.
"Er ist auch ein bisschen schwer geworden", urteilte Semotan über den von ihr gestalteten Preis. Silberschneider wusste für Sekunden gar nicht, wo anpacken geschweige denn, was sagen. Also trug ihm Semotan ihr Kunstwerk nach. Und wünschte sich, dass Silberschneider das Preisobjekt zumindest sieben Mal anschauen und nicht bloß irgendwo abstellen würde. Sieben Bilder eines Sonnenaufgangs hat Elfie Semotan in die Box gepackt.
Und der erste begeisterte "Wuuuhuh!"-Ruf galt Johannes Silberschneider. Die zweite und letzte, sehr laute spontane Begeisterungsbekundung bekam Diagonale-Leiterin Barbara Pichler. Ihre Eröffnungsrede war ein Plädoyer für die Kunst, die nicht ausgespielt werden dürfe gegen andere Notwendigkeiten und Bedürfnisse einer Gesellschaft.
Barbara Pichler Eröffnungsrede als PDF.
"Einer der Spartipps, die ich am öftesten zu hören bekomme ist die Empfehlung, doch einfach vermehrt mit PraktikantInnen zu arbeiten", sagt Barbara Pichler in der Grazer Helmut-List-Halle, und ich unterstreiche jeden fünften Satz ihrer Rede im Kopf. Gehighlightet und Ausrufezeichen. Deutlicher und politischer hätte ich mir diese Eröffnungsrede nicht wünschen können.
Sind PraktikantInnen im Saal anwesend?
Die Diagonale hat dieses Jahr einen Hauptsponsor verloren. Das Budget ist knapp. "Corporate Social Responsibilty steht derzeit zwar hoch im Kurs, aber das scheint nichts daran zu ändern, dass Qualifikation und professionelle Arbeit unter akzeptablen Bedingungen ohne große Hemmungen durch Ausbeutung ersetzt, ungeachtet dessen aber natürlich gleichbleibende Qualität erwartet wird", hält Pichler fest. Die Diagonale kämpft mit der wachsenden Diskrepanz zwischen filmischen Angebot und finanziellen Möglichkeiten. Der Wunsch, das Festival auch nur um einen Tag zu verlängern, ist angesichts der budgetären Situation eine Illusion.
Andere würden die Lage bemüht wegzulächeln versuchen. Barbara Pichler stellt sich hin und spricht Zustände an und aus, die sich nicht allein auf die Diagonale beziehen. Kunst und Kultur als "Zulieferer für Effekte, Umsätze und Auslastungen" zu betrachten, das wird sich auf Dauer nicht ausgehen. Das erlaubt aber keineswegs den Umkehrschluss, die Liebe zum Kino als romantisch oder nostalgisch abzutun: "Wir alle müssen uns selbstverständlich mit wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auseinandersetzen und auch mit der Aufmerksamkeitsökonomie des Marktes. Aber derzeit scheinen wir in mehr oder minder drückendem Ausmaß zur Verwaltung des Mangels gezwungen", so Pichler.
Was sagt die Dramaturgie des Abends?
"Spanien" von Anja Salomonowitz läuft ab 23. März in den österreichischen Kinos.
Bei aller Direktheit, es gab an diesem Abend noch genug Poesie. "Spanien" von Anja Salomonowitz ist der diesjährige Eröffnungsfilm. Ein meisterlicher Bilderreigen fächert sich auf. Als hätte die Regisseurin jede einzelne Einstellung durch Instagram oder eine andere optische Optimierungs-App laufen lassen. Dabei sind einzig die Ameisen programmiert, die über alte Wände krabbeln. Abspann-LeserInnen wissen mehr. Es ist die Ausstattung, die ganze Arbeit geleistet hat und die Künstlichkeit des Films erzeugt. Die Dramaturgie indes hätte noch ein wenig mehr Verknüpfung vertragen.
Dor Film
Leidenschaften mit Betonung auf Leiden führen die Figuren zueinander. Engelsgleich entsteigt der französische Arthouse-Liebling Grégoire Colin als Flüchtling einem Verkehrsunfall. Er wollte nach Spanien, gelandet ist er in einem idyllischen Dörfchen in Österreich. Ein Spieler füttert nächtelang Automaten mit Euro-Scheinen. Der Fremdenpolizist (Cornelius Obonya) stalkt seine Ex-Frau (Tatjana Alexander, die man in dem einen oder anderem TV-Krimi gesehen hat), weil er die Trennung nicht akzeptieren will. Von fremden Männern, die er der Scheinehe überführen möchte, will er "die Worte wissen", die ihre Frauen an sie binden. Eine so große wie naive Vorstellung. Die Ex-Frau ist Restauratorin und malt Ikonen, für deren Augen sie arme MigrantInnen Modell stehen lässt. Sie selbst spiegelt mit ihrem roten Haar und ätherischem Wesen eine Frauenfigur, geradewegs auf Zehenspitzen der Kunstgeschichte entstiegen. Nur welcher Epoche?
Dor Film
Salomonowitz spielt auf religiöse Symbolik an und zitiert Gemälde, deren Maler ich nicht zuzuordnen vermag. Weil es keine Auflösung dazu gibt. Der Autor Dimitré Dinev, dessen Roman "Engelszungen" ein Bestseller ist, schrieb mit Salomonowitz am Drehbuch. Das hört man in den Dialogen.
Ihr Team begrüßt die Regisseurin noch schnell, bevor das Eierspeis-Büfett in der Halle aufgebaut wird und während die ersten Richtung Raucherpause strömen. Anja Salomonowitz fragt in ihr Mikro: "Was sagt die Dramaturgie des Abends?"
Experimentalfilme auf der großen Leinwand anschauen und abwechselnd ins Gewusel war die Antwort. Ich will Pacman spielen und im Parcours auf Zurufe von einem bekannten Gesicht zum nächsten laufen. Ich müsste permanent abstoppen. Arash T. Riahi flyert unauffällig und zugleich breitenwirksam. "Nerven Bruch Zusammen" heißt sein Film über Bewohnerinnen eines Frauenhauses, der heute auf der Diagonale Premiere hat.
39 Uraufführungen warten in den kommenden fünf Festivaltagen. Los geht's!
Gute Projektionen!
Heute zum Beispiel mit einem Besuch im größten Wohnkomplex von Mexico City ("Tlateloco" von Lotte Schreiber), einer Begegnung mit einem jungen Mann, der sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlt und selbst ein herziges Babyface hat ("Outing" von Sebastian Meise und Thomas Reider) oder einem Kräftemessen mit einem Reptil ("Das Persische Krokodil" von Houchang Allahyari). Kino, das einem beinahe körperlich nahe gehen könnte. Und das ist keine Warnung, vielmehr eine Aufforderung.