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Christian Fuchs

Twilight Zone: Film- und Musiknotizen aus den eher schummrigen Gebieten des
Pop.

11. 3. 2012 - 08:17

Schamlose Gespräche

Trio Infernal: Kaminplaudereien dreier Filmbesessener. Michael Fassbender lässt in "Shame" als Sexsüchtiger die Hosen runter. Wir analysieren.

Da sitzen wir rund um den virtuellen Kamin und schwärmen, Silvia Szymanski, Sebastian Selig und meine Wenigkeit. Drei Filmbesessene, die aus unterschiedlichen Richtungen kommen, lassen ihren Assoziationen zu einem auserwählten Streifen freien Lauf und driften dabei schon mal ins fantechnische Delirium. Alles mit voller Absicht natürlich.

Zusammengefunden hat sich diese Runde wegen dem neuesten Film eines Briten mit dem schönen Namen Steve McQueen. Mit seinem Regiedebüt "Hunger", das den fatalen Hungerstreik eines politischen Gefangenen zeigt, ist dem bildenden Künstler bereits ein gefeierter Ausflug von den Gallerien auf die große Kinoleinwand gelungen.

Achtung: Spoilerwarnung. Über einige zentrale Szenen des Film mussten wir einfach plaudern.

In "Shame" nähert sich McQueen nun einem Terrain, das man zuletzt eher aus derben Produktionen von Judd Apatow kennt. In dessen Komödien wimmelt es vor obsessiven Einzelgängern, die ein Leben zwischen Pornografie und Onanie führen. Viel zum Lachen findet man in "Shame" aber nicht. Im Zentrum steht Brandon, ein erfolgreicher New Yorker Businesstyp, der in einem chicen Appartment in Downtown Manhattan residiert. Der gut aussehende Mittdreißiger verstrahlt eine kühle Distanz, in seinem Inneren brodelt es aber. Brandon ist süchtig nach Sex, taumelt von One-Night-Stands in die Arme von Prostituierten und wieder zurück nach Hause an den Rechner, wo Pornovideos warten.

Geschickt verbirgt Brandon, im wahrsten Sinn des Wortes verkörpert von Shootingstar Michael Fassbender, sein Doppelleben vor der Öffentlichkeit. Erst als seine chaotische Schwester, gespielt von Cary Mulligan, sich bei ihm einquartiert, zerbröckelt die Fassade allmählich. Diesem Niedergang beizuwohnen gehört wohl zu den intensivsten Filmerlebnissen seit geraumer Zeit.

Shame

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SEBASTIAN: Silvia, Christian, "Shame", schamvoll unterdrücktes Brodeln? Oder habt ihr euch da ganz ausschweifend lustvoll mitreißen lassen, von diesem Film, diesem unruhig fiebrigen Streifen durch wunderschöne New York Tableaus?

Silvia Szymanski schreibt beim Filmblog hardsensations.com. Am intensivsten über Filme aus dem Golden Age of Porn. Romane schreibt sie aber auch.

Sebastian Selig lebt im Kino, einem auschweifend sinnlichen Ort suchtvoller Verstrickung. Darüber was er dort erlebt, schreibt er in Magazinen wie "Deadline", dem "Splatting Image", wie dann eben auch hier.

SILVIA: Ich mochte sehr den Rhythmus, schön bemessen, chice Musik auch. Aber was das ästhetisch-elegante New York des Films betrifft: Da fand ich Brandon interessanter als seine Umgebung. Ich sah in ihm einen beherrschten, rätselhaften, schönen Mann, der in seinem tödlich langweiligen Alltag sein eigentliches, unangepasstes Selbst verbergen muss. Er wäre lieber ein Musiker in den aufregenden 60er Jahren gewesen. Etwas gärt in ihm. Doch draußen lässt er die Dinge an sich abperlen, vorübergleiten und trifft sehr selten Entscheidungen, selbst im Restaurant.

CHRISTIAN: Was du da mit der Beherrschung ansprichst, ist ein zentraler Punkt des Films, finde ich. Und es ist auch ein Schlüsselthema von großartigen US-Serien wie "Mad Men". Irgendwie musste ich bei Brandon auch an Don Draper denken. Beide sind Männer, die gerne offensive Ekstatiker wären, es aber in ihrem konditionierten Umfeld verbergen.

SEBASTIAN: Dieses aufzehrende Schwanken zwischen beherrschtem Abschätzen, diesem eine Situation, eine Begegnung kontrollieren wollen, mit dem Ziel allerdings sich letztlich ganz rauschhaft zu verlieren, sich so dann vielleicht doch zu spüren, das vermittelt einem "Shame" schon in verdammt mitreißender Weise. Da funktioniert der Film, vor allem natürlich über Brandon, seinen geradezu soghaft zur Identifikation einladenden Helden, wie ein verführerisch dunkler Abgrund in den man nur allzu willig taumelt.

CHRISTIAN: Zu den angesprochenen Tableaus noch - der Film funktioniert für mich, wie der beste Pop, durch eine radikale Gegensätzlichkeit. Weil er einen extrem desolaten Inhalt in eine verführerische Verpackung steckt. Mit dieser Ambivalenz arbeiten ja auch Musiker wie Lykke Li, The Drums oder Zola Jesus. Lustvoll wirkt für mich der Alltag von Brandon nämlich gar nicht, wenn ich diesen Begriff mit einer halbwegs sinnlich besetzten Befreitheit assoziere. Der Typ ist doch getrieben und gequält von seiner Obsession. Und gleichzeitig treiben einen die Bilder als Zuseher in einen hypnotischen Rausch der Körper, Dekors, Lichter.

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SEBASTIAN: Nochmals zurück zur Scham, ist sie es, die diesen Brandon treibt und quält, oder ist es nicht vielmehr der Verlust jeglichen Schamgefühls, der ihn da ganz betäubt, ihn immer wieder ganz verzweifelt torkeln lässt?

SILVIA: Es muss jedenfalls einen Grund geben, warum er seine Pornos wegwirft. Ich finde das nicht schlüssig, aber vielleicht ist Scham sein Grund. Er sah sich wohl plötzlich mit den Augen seiner braven Kollegin und wollte sich zwingen, noch "normaler" zu werden. Den anschließenden "Rückfall" mochte ich lieber an ihm. Jeder kennt das Scheißegal-Gefühl, dem er da nachgibt. Wenn man vor lauter Wut und Traurigkeit einfach provozierend und rücksichtslos ehrlich ist, irgendwo hin geht, wo man sich nie hingetraut hat, wie in diesen Schwulen-Darkroom… Allerdings mag die Blowjob-Szene dort vielleicht wirklich als tiefster Punkt in Brandons Entwicklung gemeint sein, der eine "Läuterung" einleiten soll. Man hat das dem Regisseur vorgeworfen. Die anschließende Szene mit den beiden Prostituierten ist jedenfalls eindeutig als Kontrast zum dunklen Schwulenkeller inszeniert, im Honiglicht, mit Durakkord beim Orgasmus - die Szene fand ich wirklich dumm. Manchmal denke ich, der Film hat sich irgendwann von den neo-spießigen Absichten seines Regisseurs selbständig gemacht, um was Besseres zu werden, es aber nicht in allen Szenen schaffen können.

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CHRISTIAN: Es ist eigentlich ganz schwierig für mich zu sagen, was ihn genau treibt, weil man sich gleich in so einen Bereich der schnellen Feuilleton-Schlussfolgerungen und billigen Kulturkritik begibt. Da ist dann das böse Internet mit seinen omnipräsenten Verlockungen der Hauptschuldige. Oder die Pornografisierung der Gesellschaft. Und, wie du es ja ansprichst Silvia, outet sich Regisseur McQueen in Interviews als strenger Moralist. Ich denke allerdings es kommen viele Faktoren zusammen. Ich sehe auch Sex als simple Triebabfuhr und Entstressungsmittel im Film, was unter Geschäftsleuten gängig ist. Wieder muss ich an den "Mad Men" Don Draper denken. Aktuell wurde da etliches auch im Zusammenhang mit dem Fall Strauss-Kahn zuletzt diskutiert, Sex nicht als Georges Bataille’sche Entgrenzung, sondern als Droge um den Druck des Powerkapitalismus kurzfristig abzubauen.

SILVIA: Hm, ich möchte die triebhaften Sehnsüchte von Geschäftsleuten und Strauss Kahns nicht negativer bewerten als meine. Ich nehme an, der Powerkapitalismus tut auch Erfolgreichen oft Ungeheueres an; alle haben eine Riesenangst unter den Bombardements seiner Ansprüche. Vielleicht bin ich aber auch zu nett, ich weiß nicht… Es würde wohl mal Zeit für mich, den mir so oft empfohlenen Bataille zu lesen.

CHRISTIAN: Im Werk von Bataille, dem Eros-Philosophen schlechthin, geht es auch um das Wechselspiel aus Scham und Schamlosigkeit, Zurückhaltung und heftigem Tabubuch. Ich habe das Gefühl, "Shame" kreist aber im Gegensatz dazu um eine universelle Verlorenheit, ein existentielles Loch, das Brandon mit willkürlichem Sex zu füllen versucht. Aber vielleicht bin ich einfach nur der Depri-Typ in unserer Runde.

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SEBASTIAN: Unmöglich über "Shame" zu sprechen, ohne Fassbenders gleichsam genaues, wie seltsam entrücktes Hinsehen zu übersehen? In der U-Bahn, durchs Schaufenster des Restaurants auf die dort mit ihm verabredete Kollegin… Auch über das Nicht-Hinsehen-Können, zu Dritt im Taxi mit Schwester und Boss.

SILVIA: Stimmt, Blicke sind ein großes Thema dieses Films. Ich liebe die Anfangsszene in der U-Bahn. Diese spontane Verliebtheit Brandons und seiner Zufallsbekanntschaft, nur durch Blicke. Dann die Veränderung auf dem Gesicht der Fremden, wie ein Schatten; ihre anfänglich freudige Aufregung schlägt um in etwas Dunkleres, in Leidenschaft, Schmerz, Verzicht. Plötzlich ist es, als ginge es um Leben und Tod.

SEBASTIAN: Sofort ist da diese Dringlichkeit. Dieses alles andere ausblenden und nur dem Moment folgen. Der Frau folgen. Durch das Körpergewirr der Rush-Hour. Dem zu folgen, was die Blicke, die eine kurze Berührung, vorweg zu nehmen schienen. Mit unstillbarer Sehnsucht.

CHRISTIAN: Einer Sehnsucht, die auch gar nicht befriedigt werden kann. Oder zumindest immer nur kurzfristig. "Addicted To Love" heißt ein Klassiker von Robert Palmer aus den Achtzigern und ich habe den Eindruck, dass es sich in diesem Song nicht um Liebe dreht.

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SEBASTIAN: Lasst uns über diese Sucht sprechen, die eindringliche Dringlichkeit, die da über allem schwebt. Passt das überhaupt? Ist dieser Brandon ein Fall für die Selbsthilfegruppe?

SILVIA: Bitte nicht. Wenn dieser furchtbare momentane Trend so weiter geht, haben wir bald die ganze Welt sich geißelnd in Therapien sitzen. Wäre "Sexsucht" nicht das erklärte Thema von "Shame", wäre ich nie auf die Idee gekommen, Brandon süchtig zu finden. Er lebt das Leben eines gut aussehenden, erfolgreichen Singles in einer Metropole. Seine angebliche Beziehungslosigkeit sehe ich nicht. Er ist doch eigentlich sehr nett zu seiner Schwester, z.B. Er möchte nur nicht für sie verantwortlich sein. Das kann man doch auch nicht.

CHRISTIAN: Ich bin mit dem Ruf nach Selbsthilfegruppen und Therapeuten auch vorsichtig. "Sexsucht" ist - wie Burnout - halt eines der aktuellen Lieblingsmodewörter. Andererseits ist es, inmitten all der hektischen Quickies, des einsamen Masturbierens und der erkauften Blowjobs, vor allem das verzweifelte Gesicht von Brandon, dass sich in die Netzhaut einbrennt. Ich sehe zum Finale hin schon ein Taumeln in einen Untergang, zumindest für eine bürgerliche Existenz wie Brandon, der eben kein libertiner Bohemien ist. Und lasst uns den großartig mysteriös bleibenden Monolog von Brandons Schwester nicht vergessen, da wird ein zurückliegendes heftiges Trauma in der Familie angedeutet. Das sind beides sehr angeknackste Figuren für mich, was aber keinerlei Wertung darstellen soll. Ich liebe angeknackste Figuren über alles.

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SEBASTIAN: "Drive", L.A., jetzt mit "Shame" gar nicht so weit entfernt davon New York. Auch Carey Mulligan verbindet diese beiden Filme, diesen beiden Männer ja miteinander. Noch mehr?

CHRISTIAN: Beide Streifen sind für mich, ganz in der Tradition von "Taxi Driver" und Paul Schrader, große traurige Männerfilme. "Gods lonely men" hat Schrader diese Figuren genannt, diese Protagonisten, die allesamt eine innere Leere fühlen. Eine Unruhe und Sehnsucht nach Veränderung. Einige von ihnen schreiben Tagebücher in der Isolation ihrer Wohnungen, andere driften durch die Nacht, hungrig nach Erlösung. Die Erlösung, das kann, frei nach Schrader, eine Frau sein oder auch eine geladene Waffe, beides in "Drive" auf den Punkt gebracht, von Nicolas Winding Refn auf eine bewusst asexuelle Weise. In "Shame" ist es dagegen manischer Körperkontakt, Non-Stop-Entäußerung, die zum Fluchtmittel aus dem Vakuum wird. Und ja, Cary Mulligan, man muss sie auf einen Thron heben, diese fantastische Darstellerin des Gegenwartskinos, macht aus "Shame" für mich auch einen Film über verletzte, gehetzte Frauen.

SILVIA: Für mich war Anna Thomson in Amos Kolleks "Sue" eine der rührendsten Darstellerinnen verletzter, gehetzter, "sexsüchtiger" Frauen. Auf Mulligan müsste ich noch mal besser achten.

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SEBASTIAN: Anna Thomson zu erwähnen, öffnet da bei mir alle Schleusen... "Sue", aber auch ein Jahr später dann nochmal Thomson als "Fiona", Ende der 90er, Berlin... Ich war (und bin es sogleich wieder) geradezu suchthaft verrückt nach ihr. Aber nochmal zurück zu "Gods lonley men". Was sowohl "Drive" wie auch "Shame" für mich stark verbindet, ist, dass beide Filme ganz stark Spür-Filme sind. Filme, die sich mit dir auf sehr direkter, körperlich naher Ebene verbinden. Filme, bei denen du als Zuschauer das Gefühl hast, das nehme nur ich jetzt so persönlich und direkt wahr, andere erleben das bestimmt anders. Und auffällig war ja auch, wie viele, mit denen ich sprach, hier verschiedene Handlungselemente für sich komplett anders interpretiert haben. Was nun Bezahlsex war, was nicht... Was da in der Vergangenheit bei Brandon und seiner Schwester was wie ausgelöst hat. Wer da auf dem Anrufbeantworter, einfach nicht locker lässt. Habt ihr "Shame" eigentlich nicht auch als sehr romantischen Film erlebt?

SILVIA: Ja, zum Beispiel der Auftritt der Schwester als Sängerin in einem Club. Da dachte ich, beide hatten wahrscheinlich denselben großen Jugendtraum: an einem strahlenden, aufregenden Leben irgendwo da draußen teilzuhaben. Es muss nichts Schlimmeres in ihrer Vergangenheit passiert sein, als dass dieser Traum verletzt wurde. Das wäre katastrophal genug, um sich die Adern aufschneiden zu wollen. Oder um einen Anschluss an die verlorene Liebe zum Lebendigsein in Pornos oder One-Night-Stands zu suchen.

CHRISTIAN: Mit der Szene, in der Cary Mulligan auf der Bühne steht, ging es mir genauso. Überhaupt ist es die Chemie zwischen den Geschwistern, die eine schöne Sentimentalität aufflackern lässt. Die übersteigerte Romantik, die mich in "Drive" auf einer warmen Welle dahingetragen hat, fühlte ich hier aber nicht. Und Brandons Versuch, sich einer Frau abseits seiner One-Night-Stands anzunähern, scheitert ja kläglich. Begibt man sich aufs Glatteis der Trivialanalyse, scheint sowohl die Keuschheit des Drivers, als auch die Sexsucht des Geschäftsmannes mit einer bestimmten Impotenz zu tun zu haben. Ryan Gosling greift sofort nach dem ersten und letzten Kuss im Lift zur brutalen Gewalt, Michael Fassbender ordert sich nach dem missglückten Versuch konventionellen Sex zu haben gleich mal eine Prostituierte. Aber das Tolle an diesen Filmen ist: Sie blicken nicht auf diese Charaktere hinab. Wir stecken in ihrer Haut und gleiten mit ihnen durch die Nacht.

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SEBASTIAN: Fassbender, was soll man da noch sagen? Spätestens nach dem Film jetzt ganz, ganz oben im Olymp? Hier ganz nackt nochmals berührender?

CHRISTIAN: Michael Fassbender ist phänomenal in dem Film, aber von ihm wird noch viel mehr folgen, da bin ich überzeugt. Was war denn euer liebster Fassbender-Moment in "Shame"?

SEBASTIAN: Der Moment wenn er lässig am Anrufbeantworter vorbei nackt zum Klo schlendert, war natürlich toll, auch wenn das ein wenig was von Beweisführung in Richtung guck-ich-trau-mich-da-wirklich-meinen-Schwanz-zu-zeigen hatte. Schauspielerisch noch viel beeindruckender sind natürlich die zahlreichen, sehr langen Einstellungen, nicht nur im Dialog, mehr noch wenn die Kamera lange auf seinem Gesicht verharrt und da dann ganz ohne Worte kleinteiligste Welten durchrauschen. Sprachlos machende Schauspielkunst ist das, der man hier beiwohnen darf.

SILVIA: Ja, er ist sehr subtil. Und er hat diese traurige, sensible Würde. Nackt alleine in der Wohnung erinnerte er mich an Bill Harrison in Wakefield Poole´s schönem Porno "Bijou". "Shame" mit expliziteren Szenen, das hätte mir schon sehr gefallen.

CHRISTIAN: Ich danke euch für dieses Gespräch!

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