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Michael Schmid

produziert Texte und Radiobeiträge für Connected, Homebase & Im Sumpf

13. 3. 2012 - 14:52

Phänomen „Fakenger“

Immer mehr Fixies, Courier-Bags und alte italienische Stahlrahmen bevölkern die urbanen Radwege. Warum wollen so viele Radfahrer wie Fahrradboten aussehen?

Für Fahrradkuriere ist die rasante Fortbewegung durch den urbanen Raum nicht nur Beruf, sondern auch Lifestyle und kultureller Code. In den Großstädten der USA wurden die „Messengers“ in den 1990er Jahren zu Heroen des urbanen Dschungels stilisiert. Ihre radikale Fahrweise, ihr exzentrischer Lebensstil, ihr körperlicher Einsatz im großstädtischen Verkehrswahnsinn und ihr Hang zum Regelbruch scheinen jede Menge Sehnsüchte der Jetztzeit zu bedienen. Denn wie wäre es sonst zu erklären, dass immer mehr Menschen die Kultur der Kuriere kopieren?

Riskante Fahrradliebe

Little ist Fahrradbote in Wien. Seine Aufträge führen ihn quer durch die Wiener Innenstadt. Zwischen Taxis, Lastwagen und FußgängerInnen nimmt er auf seinem Rennrad immer die direkte Strecke, denn es muss schnell gehen. Rote Ampeln haben für ihn eher Signalwirkung, wirklich stehen bleibt er nur, wenn er nicht anders kann. Dreispurige Fahrbahnen, schlecht markierte Radwege, Stiegen oder Fußgängerzonen gehören zu seinem gewohnten Terrain. Um die hundert Kilometer legt er so täglich auf dem Rad zurück, das entspricht der Strecke von Wien - St. Pölten und zurück. Viel körperlicher Einsatz bei relativ schlechter Bezahlung.

Fahradbote zwischen Häuserzeilen und PKW

Michael Jurasek

„Keiner, der weiß, dass er der Schwächere ist, wird so dumm sein und sich mit einem Autofahrer anlegen. Aber irgendeinen Klopfer haben sie aber alle, das steht fest, sonst macht man das nicht.“

Alleycats, illegale Rennen in der Nacht

Um die 150 Botinnen und Boten verdienen in Wien mit den riskanten Fahrten durch die Stadt ihr Geld. FahrradkurierIn ist aber mehr als ein Beruf. In den letzten Jahrzehnten hat sich eine eigene Kultur rund um die rasanten RadfahrerInnen entwickelt, denn auch in der Freizeit sind die Boten nur schwer von ihren Rädern zu trennen.


Das Walpurgisnacht-Alleycat im April 2011 in Wien. Video: Simon Graf

Bei so genannten „Alleycats“ treffen sich die Kuriere regelmäßig, um sich bei einer Art Schnitzeljagd zu messen. Im Rahmen einer großen Party fahren sie Rennen. In möglichst kurzer Zeit werden verschiedene Checkpoints in der Stadt angefahren, um dort Aufgaben zu lösen, ganz wie im Berufsalltag. Manchmal müssen U-Bahn-Fahrscheine gezwickt, Rechenaufgaben gelöst oder irgendwo Stempel abgeholt werden. Alleycats finden meistens in der Nacht statt, da ist weniger Verkehr, und Autos machen sich durch Scheinwerfer bemerkbar. „Da kann man sich dann voll in jede Kreuzung reinlassen, wenn man kein Licht kommen sieht. Und der Schnellste gewinnt, ist eh ganz klar.“

Legal sind die Kurier-Rennen nicht, und der Regelbruch gehört auch beim Alleycat zum guten Ton. Im Zentrum der Botenkultur steht aber das Fahrrad. Viele Kuriere haben neben ihrem beruflichen Beförderungsmittel noch mehrere Räder. Oft sind es Raritäten und selbstgebaute Einzelstücke. Vor allem alte Rennradrahmen aus Stahl sind beliebt, und „Fixies“. Die „Fixed Gear Bicycles“ sind puristische Maschinen mit maximaler Funktionalität. Sie haben nur einen Gang und keinen Freilauf. Das heißt die Pedale sind fix mit dem Hinterrad verbunden, und man muss permanent mittreten. Verzichtet wird auf viel. Sogar die Bremsen sind den Botinnen und Boten zu fehleranfällig.

„Don’t call me Fixter“

Der Trend rund ums Fixie kommt aus New York. Die Mär geht so: Wegen der hohen Diebstahlsrate in NYC würden viele Boten ihre Räder mit hinauf ins Büro nehmen, da ist Leichtbau gefragt. Und weil der Verschleiß bei Arbeitsgeräten hoch ist und Reparaturen nervig, würde alles abmontiert werden, was im Weg ist. Ein weiterer Vorteil der Fixies: Ein potentieller Dieb merkt spätestens in der nächsten Kurve, dass die Bremsen fehlen. In einer anderen, plausibleren Erklärung folgt der Trend zum Fixie schlichtweg der simplen Logik von Distinktion.

Massan, einer der Popstars der Fixie-Szene auf seiner wahrscheinlich populärsten Fahrt. Bremsen kann er genauso wenig gebrauchen wie Stoppschilder.

Das Fixie ist in erster Linie „Agenturfahrrad“ und neben der sorgfältig zerzausten Frisur und der Hornbrille auch Hipster-Accessoire. Warum sonst wäre eine gelbe (!) 1/8-Zoll-Fahrradkette Teil einer Hipster-Falle in NYC.

Zum Fixie-Fahren gehört einige Übung, denn wer zu treten aufhört, wird recht unsanft von seinem Ross abgeworfen. Für den Straßenverkehr sind solche Räder nicht zugelassen. Die Berliner Polizei wollte dem Trend mit der schlimmsten Strafe Herr werden, die es für Selbstbau-RadlerInnen gibt: Sie konfiszierten Räder, die nicht der Straßenverkehrsordnung entsprechen.

Geliebt werden Fixies auch wegen der Tricks, die man mit keinem anderen Rad machen kann, Rückwärtsfahren zum Beispiel. Für Fixie-FahrerInnen wird die Stadt so zum großen Spielplatz, öffentliche Plätze werden zum Trainingsparcours und urbane Architekturen zu willkommenen Hindernissen.

Rückeroberung des öffentlichen Raums

Der US-amerikanische Soziologe Jeffrey Kidder beschäftigt sich mit der Kultur der Fahrradkuriere auf einer wissenschaftlichen Ebene. Ob bewusst oder unbewusst, so der Wissenschaftler, die Fahrradkuriere eignen sich spielerisch den öffentlichen Raum der Städte an und üben so Kritik an der Verteilung und Ordnung von Raum. Städte, so der Soziologe, sind, im abstrakten Sinn, für den kommerziellen Fluss organisiert. Und die Fahrradkuriere haben sich dieser globalen Wirtschaft angepasst, indem sie die Unternehmen auf einer lokalen Ebene beliefern. So sind sie Teil des kommerziellen Flusses. Stadtplaner und Verkehrsingenieure haben Fahrbahnen und Gehwege entworfen, die wir auf eine bestimmte Art und Weise benützen. Und Boten würden mit diesen Regeln hantieren, unberechenbar und nicht der geplanten Verkehrslogik folgend. Sie spielen auf eine Art mit dem Verkehr. Statt die Regeln der Straße zu befolgen, sehen sie den Verkehr als ein Problem, das es zu überwinden gilt, als ein Hindernis das es zu verstehen gilt.

Prototypisches Prekariat

Für den Soziologen bieten die Fahrradboten aber auch die Möglichkeit über die gegenwärtige Erwerbsarbeit neu nachzudenken. Denn obwohl die Bedingungen, unter denen Kuriere täglich arbeiten, oft sehr schlecht sind, scheint der Beruf sinn- und identitätsstiftend zu sein. „Fahrradkuriere werden wie viele Niedriglohn-Arbeiter dieser Zeit ausgebeutet. Sie verdienen pro Fahrt zwischen 40 und 60 Prozent des tatsächlichen Gewinns, sie setzen sich großen Gefahren aus, es gibt eine sehr geringe Arbeitsplatz-Sicherheit und nur selten Gesundheitsfürsorge. Aber ihre Arbeit ist nicht entfremdet. Im Gegensatz zu anderen Arbeitern finden sie wirklich Freude und Sinn in ihrem Job. Und vor allen finden sie sich darin selbst wieder. Wir sollten darüber nachdenken, dass Arbeit beides sein kann: Ausbeutung und Entfremdung, aber das sind nicht die gleichen Dinge.“

Diese neue, sinnstiftende Qualität von Erwerbsarbeit ist aber gleichzeitig eine Gefahr, so Kidder. Denn die starke Identifikation mit ihrer Arbeit führt nicht nur zu einer Vermischung von Arbeitszeit und Freizeit, sondern macht sie auch zur leichten Beute der Firmenchefs. Viele würden die gefährlichsten Jobs als die besten empfinden. „Zur Reproduktion und Regeneration veranstalten sie in ihrer Freizeit Rennen. Fahrradboten reisen um die ganze Welt, um bei Alleycats gegeneinander anzutreten. Und sie tun dies kostenlos.“

Das Sinnstiftende an ihrer Erwerbstätigkeit, die Risikobereitschaft, ihr Freiheitsversprechen und ihr Drang zu kreativer Selbstverwirklichung, all das klingt nach einem feuchten Traum des neoliberalen Managers der Gegenwart von seinen MitarbeiterInnen der Zukunft. Eigenschaften, die zu gesellschaftlichen Imperativen geworden sind. Und das macht die Kurierinnen und Kuriere auch zu beliebten Figuren der Kulturindustrie.

Alternative Mainstream

Der Film „Tempo“ etwa von Stefan Ruzowitzky siedelt eine jugendliche Dreiecksbeziehung in der Kurierszene an, Werbungen greifen immer wieder gern auf das Sujet des Fahrradboten zurück, und im Musikvideo zu „Kings And Queens“ von „30 Seconds To Mars“ werden Kuriere und andere RadliebhaberInnen zu rebellischen Kriegern der Großstadt stilisiert.

Nein, das ist nicht die Multitude, auch wenn es ein bisschen nach Critical Mass aussehen soll.

Mit der kommerziellen Verwertung der Fahrradbotenkultur, beginnen die Ränder der vormals abgeschlossenen Kultur der Fahrradboten zu bröckeln. Immer mehr Menschen eignen sich die kulturellen Codes der Messenger, wie sie im Englischen genannt werden, an. Neben dem Fixie-Boom gehören auch Kuriertaschen und 1970-er-Jahre Cappies schon länger zum guten Ton des modischen Großstädters der Gegenwart, Rennräder haben die Mountainbikes längst verdrängt.

Fakenger: Messenger, die nur so tun

Fakenger werden? Das geht so oder so.

Fakenger nennen die BerufsradfahrerInnen die Kopierer ihres Stils, eine Fusion aus den beiden Begriffen „fake“ und „messenger“. Diese Entwicklung ist auch für den Soziologen Jeffrey Kidder interessant zu beobachten: „Eine Subkultur ist nur so wertvoll, wie exklusiv sie ist. Wenn jeder in deiner Subkultur inkludiert ist, ist es keine Subkultur mehr. Alle Subkulturen müssen ihre Grenzen kontrollieren. ‚Fixed Gear Bikes’ wurden immer beliebter, und so gab es eine Art Notwendigkeit, ein Anderssein zu behaupten. Begriffe wie ‚fakenger’ oder ‚posenger’ sind für die Kuriere als Möglichkeit aufgetaucht, um sich über andere lustig zu machen, und um sich von ihnen zu unterscheiden.“

Obwohl der Begriff Fakenger natürlich abwertend gemeint ist, reagieren die Kuriere nicht überall ablehnend auf die Kopierer ihrer Kultur. Ein wenig lustig macht man sich zwar schon über die neuen Kolleginnen und Kollegen, die gar keine sind, insgesamt freuen sich die Kuriere in Wien aber über jeden zusätzlichen Radfahrer auf der Straße. So wie Little: „Mir taugt das eigentlich eh, dass die Leute uns kopieren wollen. Das zeigt ja, dass wir durchaus am Weg sind, anerkannt zu werden. Eigentlich freue ich mich. Je mehr Radfahrer in der Stadt, umso besser. Denn die Aufmerksamkeit der Verkehrsplaner wird so auf die Radfahrer gelenkt. Man kann nur alle Fakengers begrüßen, Fakenger zu werden.“