Erstellt am: 7. 3. 2012 - 17:53 Uhr
Metaphern am Meeresboden
Es ist schwer zu sagen, wer wann und wo damit angefangen hat, die MusikerInnen oder die KritikerInnen, aber das Ergebnis ist, dass die gängigen Gesetze der Produktion und Rezeption von Pop die dümmsten bzw. antiintellektuellsten (=alle Nichtdummheit verdammenden) aller Kunstformen geworden sind.
Nicht einmal einem schnöden Krimischreiber (und es gibt allerhand unschnöde) käme jemand mit dem Vorwurf, seine Figuren nicht mit dem eigenen Herzblut gezeichnet zu haben. Aber selbst in den besseren Rezensionen und sonstigen Geschichten, die es heutzutage über die Magnetic Fields und Stephin Merritt zu lesen gibt, kommt es ständig vor, das alles andere übertrumpfende, von Hippie-Zeiten via Punk und Indie bis heute in den vermeintlich alternativen Musikbereich herübergerettete Killerprädikat „Ehrlichkeit“, mutmaßlich beheimatet in "Herz" und "Bauch", von Rezensierenden schmerzlich vermisst im Angesicht der berechnenden Schlauheit des Stephin Merritt, der sich untersteht, – was ein Verbrechen für einen kreativen Menschen – die Liebesgeschichten in seinen Songs frei zu erfinden.

Domino Records
Dabei wäre es, wie Stephin Merritt in oben verlinktem Interview mit The Stool Pigeon ziemlich richtig sagt, völlig „insane“ seine tatsächlichen Beziehungskrisen öffentlich in seinen Texten abzuhandeln. Was die Leute, die das nicht verstehen, übersehen, ist die ganz offensichtliche Tatsache, dass Merritt gerade auf „Love at the Bottom of the Sea“ über den Umweg der von ihm aus unverlässlicher Erzählerperspektive besungenen Charaktere ganz eindeutige, sehr persönliche Statements abgibt und – wenn richtig darauf angesprochen - über diese auch freimütig Auskunft erteilt.
Nehmen wir einmal „Andrew In Drag“, die Geschichte der aussichtslosen Liebe eines Bürohengsts:
„Er ist ein Kinsey Zero heterosexueller Mann, der sich in eine Frau verliebt, die nicht existiert außer als die Frauenkleiderfigur seines Freundes Andrew, der das nur zum Spaß gemacht hat. Unser namenloser Protagonist hat abgesehen davon kein Interesse an Andrew. Seine Liebe gilt einzig dieser nicht existenten Frau. Es ist eine unmögliche Liebessituation, die durch ihren zufälligen und trivialen gleichgeschlechtlichen Aspekt noch schmerzhafter gemacht wird. Aber so wie ich das sehe, ist da niemand schwul, weil die Frau, die er liebt, immer noch eine Frau ist. Es ist eine heterosexuelle Liebe zu einer Frau, die von einem Mann verkörpert wird.“
Ich fragte Stephin Merritt nach den kleinen Details, die den Protagonisten alles andere als sympathisch machen. Die Art, in der er Schwule „fags“ nennt, zum Beispiel. Die Erwähnung seiner Vermögensanlagen. Die unausgesprochen mitschwingende Beobachtung, dass die größten Reichtümer der Welt an ihre langweiligsten BewohnerInnen verschwendet sind.
Merritt lachte zustimmend:
„Dies ist eine reiche, junge, bigotte Person, die einen Jaguar fährt. Ich habe nichts gegen Jaguars, wenigstens sind sie keine Land Rovers. Aber sie reimen sich nicht mit 'drag'.“ („Jag“ dagegen schon, Anm.)
Die Schreibmethode des dreimal fest durchgeschüttelten Reimlexikons ist einer jener Manierismen, der Stephin Merritts Texte je nach individuellem Empfinden besonders amüsant oder enervierend macht. Mir persönlich geht’s bei Liberace/Saatchi & Saatchi/Mariachi („All She Cares About Is Mariachi“) oder bei You/Who/Hugh („I'd Go Anywhere With Hugh“) schon ein gutes Stückchen zu weit.
Aber grundsätzlich steckt hinter dieser, an die schönsten Stilblüten der Tin Pan Alley, der Musical- und Operettenwelt erinnernden Gebrauchspoesie ein zutiefst moralischer Kern.
Merritt gibt aus Prinzip keine konkreten politischen Statements ab („ich will meinen Pass behalten“), eine scheinbar humorige Farce wie „God Wants Us To Wait“ ist aber zum Beispiel im Kontext der republikanischen Vorwahlen und den Enthaltsamkeitsparolen eines Sick Rantorum zu sehen.
„The Machine In Your Hand“ ist wiederum die charmanteste technoskeptische Kritik eines Zu-Früh-Geborenen am ansatzweise degoutant intimen Verhältnis zwischen Mensch und Touchscreen, die mir bisher untergekommen ist.
Die ästhetische Entscheidung, zur Verwendung von Synthesizern zurückzukehren, die dann als musikalische Parallelebene, Störsignale und Farbschmierer wie eine Übermalung auf die akustischen Arrangements aufgetragen werden, entspricht wiederum genau der beschriebenen Entfremdung zwischen Erzähler und Autor. Und ja, das ist schlau und kalkuliert. Und gerade deshalb so gut.