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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

11. 3. 2012 - 17:33

Stets leicht schwebend

Tel Aviv und Herzfrequenzen pulsieren in Schulamit Meixners Debütroman "ohnegrund". Der Rest ist eine andere Geschichte.

Einen Wetterbericht an den Anfang eines Romans zu stellen, das darf als mutig interpretiert werden. Schulamit Meixner setzt in ihrem Debütroman "ohnegrund" "Barometerdrepressionen" und "Winde ohne entscheidende Richtung" selbst vor jedes Kapitel. Dann aber knallt es auf den ersten Seiten. Soldaten umstellen eine namentlich nicht genannte Gegend in London, spätnachts kauert ein Mädchen neben seinem Papa und kurz darauf sind zwei Terroristen tot. Was folgt - Überraschung - ist ein Entwicklungsroman.

Schulamit Meixner lebt mit ihrer Familie seit 2006 in London. Sie studierte Judaistik und Theaterwissenschaft in Wien und war wissenschaftliche Mitarbeiterin im Jüdischen Museum Wien.

Die Koordinaten Tel Aviv und London bestimmen Schulamit Meixners Erstling. Die Explosion zu Beginn jedoch wird die nächsten 160 Buchseiten kein Thema mehr sein. Die Erwartung abenteuerlicher Verwicklungen im Nahen Osten hält dennoch lange. Könnte ja sein, dass die Terroristen doch noch auftauchen. Nähe bestimmt die Geschichte und zwar ausschließlich im privaten Bereich. Alle Aufgeregtheit reserviert sich die Autorin für Innerlichkeiten: Amy, Tochter von Künstlereltern, lebt mit ihrer kleinen Tochter und ihrer Tante in London. Das Töchterchen stiefelt im Pyjama und übergezogener Skihose durch den frischen Schnee. Dem behinderten Nachbarjungen erzählt es stundenlang Geschichten. Die große Lücke in "ohnegrund" sind unausgesprochen die Männer der Familie, die eine jüdische Geschichte der jüngeren Vergangenheit erzählen könnte.

Die Autorin Schulamit Meixner steht an einem Geländer

Anna Blau

Debütautorin Schulamit Meixner mag Dialoge.

Schulamit Meixner wollte das aber augenscheinlich so wenig wie ihre Protagonistin Amy. Während Doron Rabinovici in seinem unterhaltsamen und cleveren Roman "Andernorts" über die Familiengeschichte eines Mannes in seinen Dreißigern die Frage nach der jüdischen Identität stellt, bewegt sich "ohnegrund" nicht über das private Befinden hinaus.

Ein Trotzkopf in Tel Aviv

Diese Amy hat genug mit sich selbst zu tun. In Rückblenden entfliehen LeserInnen mit Amy dem tonangebenden Elternhaus, in dem sie vergebens um das Interesse von Vater und Mutter buhlt. Die Kunst fodert ihren Tribut, Bilder wollen ausgestellt und Figuren in Form gebracht werden. Das Töchterchen soll Innenarchitektur in Tel Aviv studieren, das könnte passen. In Israel angekommen setzt eine Trotzkopfreaktion ein. Amy will sich auf eigene Füße stellen - mit der Kreditkarte ihres Vaters und bald umarmt vom jungen Israeli Nimrod. Tel Aviv und Amys Herzschlag pulsieren um die Wette. Romantik füllt ganze Seiten. Auch ein bisschen Sex darf sein. Das gestaltet sich allerdings so: "Jeder Stoß in ihr Inneres, jedes Stöhnen seinerseits bedeutete: »Komm mit mir!« Jeder Fingernagel, der sich in sein Fleisch krallte, jeder Seufzer ihrerseits meinte: »Bleib!«".

Das Buchcover zu "ohnegrund" zeigt den Stadtstrand von Tel Aviv und ein Flugzeug in der Luft

Picus Verlag Wien

"ohnegrund" von Schulamit Meixner ist kürzlich im Verlag Picus Wien erschienen.


Weitere Buchrezensionen

Die Leichtigkeit mag überraschen, naiv ist sie nicht. Meixner porträtiert mit der Britin Amy viele junge Israelis, die Doppelstaatsbürger sind und ihre Kindheit und Jugend etwa in den USA verbracht haben. Den großen Busbahnhof in Tel Aviv nützt Amy wie die Londoner U-Bahn, beim Abendspaziergang am Stadtstrand passiert sie die Disco, in der 2001 einundzwanzig Menschen von einem 21jährigen Studenten aus dem Westjordanland mit in den Tod gesprengt wurden. Der Hinweis zu diesem Ort ist eingestreut wie ein Tipp im Lonely Planet, zu dem einem aber auch nicht mehr einfällt, als zum nächsten Punkt auf der Karte zu schlendern. Militärische Auseinandersetzungen Israels tangieren Amy, wenn Freunde einberufen werden. Die Shoa spielt sich wieder und wieder in den Erzählungen Überlebender ab, denen man bei Familienfeierlichkeiten begegnet: "Amy versuchte, das Thema zu wechseln".

Konflikte? Welche Konflikte?

"Leicht und versöhnlich wie eine Umarmung" beschreibt der Autor Robert Schneider den Roman als Klappentext-Empfehlung. Kurzweilig ist "ohnegrund" in der Tat. Tiefe schlummert in den Charakteren, doch die Dialoge glänzen in einem Hochdeutsch, das den Anführungszeichen nicht gerecht wird. Konflikte lösen die Figuren, indem sie sich von einander entfernen. Auch eine legitime Möglichkeit. Anstrengen muss man sich auch als Leser nicht: Amy erklärt ihrer Tante das hebräische Wort "Aguna", obwohl die eigentlich auch aus einer jüdischen Familie stammt. Im Anhang listet ein Glossar weitere Begriffe. Bildung gehört zum Entwicklungsroman.

Besonders und schön sind jene Szenen, in denen Amys Töchterchen das Sagen hat. Schulamit Meixner erzählt mit klaren Sätzen und genauem Auge. Das entschädigt ein wenig für die hilflose Oberflächlichkeit ihrer Hauptfigur Amy, unter der es nur so brodeln müsste.