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Christian Pausch

Irrsinn, Island, Ingwer.

16. 3. 2012 - 13:46

Deutschland im Winterschlaf

Eine Tankstellenangestelle und zwei Psychiatriepatienten machen einen Road-Trip durch Deutschland. Was sich wie der Anfang eines schlechten Witzes anhört, ist die auf das Wesentlichste reduzierte Inhaltsangabe von "Im Winter dein Herz", dem neuen Roman von Benjamin Lebert.

Die Zeit vergeht. Diese zutiefst wahre Binsenweisheit kommt einem in den Sinn, wenn man an Benjamin Lebert denkt. Dreizehn Jahre ist es nun her, seit der damals 17Jährige seinen Erstlingsroman "Crazy" präsentierte und damit alle Bestsellerlisten sprengte.

Anfang 2012 ist Lebert dreißig geworden; das Hamburger Abendblatt nennt ihn einen "noch immer jungen Schriftsteller" und das ist man mit dreißig auch noch, nur ist die Wahrnehmung bei Lebert verzerrt, da er schon mit 15 in die Literaturwelt eingetreten ist und dort nun schon ein halbes Leben zugebracht hat. Dass er nichts von seinem Können eingebüßt hat, zeigt er in seinem neuen Roman.

Im Winter

Es ist die Geschichte von Robert, der in einem kleinen Ort namens Waldesruh in einer psychiatrischen Klinik behandelt wird. Zusammen mit zwei Freunden - einem weiteren Patienten namens Kudowski und einer Tankstellenangestellten namens Annina - beschließt Robert den Winter über wach zu bleiben. Denn in der Welt, die Lebert in seinem Roman zeichnet, wird Winterschlaf gehalten.

Jeder Mensch in Deutschland muss drei Schlaftabletten einwerfen, um den Winter über durchschlafen zu können. Eine Anordnung der Regierung, die vor allem ökologisch von Bedeutung sein soll. Drei Monate im Jahr ohne Autoabgase, ohne ein menschliches Eingreifen in die Natur. Die drei Protagonisten in "Im Winter dein Herz" setzen sich über diese Anordnung hinweg.

Brooklyn Snow

Christian Lehner / FM4

Eis knackte unter ihren braunen Lederstiefeln, als die junge Frau zu ihnen kam und ihnen ihre in einem grauen Handschuh steckende Hand unter die Nase hielt. Auf dem schmalen Handteller sahen sie drei kleine Pillen liegen. Zwei blaue und eine weiße.
"Und eure?"
Die Männer kramten in ihren Jackentaschen und förderten jeweils drei ebensolcher Tabletten zutage. Dann konnte man sehen, wie die Gestalten, die dort nahe der Tür des Gasthauses zum Schwan standen, wie auf ein Kommando alle eine ähnliche Armbewegung machten und etwas weit wegschleuderten, in die kalte, mit weißen Tupfen übersäte Luft.

lebert

sf-magazin.de

Benjamin Lebert "Im Winter dein Herz", erschienen bei Hoffmann und Campe.

Dein Herz

Es ist ein Roman über die Stille, einerseits in jedem einzelnen von uns, andererseits aber auch viel greifbarer - in einer schlafenden und passiven Welt. Lebert, der selbst einige Zeit an Essstörungen gelitten hat und Probleme mit seinem Schluckreflex hatte, zeigt sich nach und nach in der Hauptfigur des Robert, der an den selben Symptomen leidet und doch steckt er in jeder einzelnen seiner Figuren. Vor allem dann, wenn diese über das Leben und die Liebe reflektieren.

"Natürlich mache ich mir Sorgen. Genau genommen ist doch jede neu anbrechende Zeitspanne eine, in der man sich Sorgen machen muss. Aber ich versuche ... na ja ... ich versuche mir zumindest keine zu machen. Das ist doch schon mal was."

"Im Winter dein Herz" lebt von der Schreibkunst des Benjamin Lebert. Übersät mit bildhafter Sprache, die einem anfangs ein wenig übermannt, aber Satz um Satz unentbehrlicher für die Geschichte wird. Eine Empfehlung, nicht nur für Lebert-Fans.