Erstellt am: 5. 3. 2012 - 18:33 Uhr
Animal Farm goes Surrealism
Jacoby & Stuart
Jemand erwacht im Krankenhaus. Sein Gesicht und seine Hände sind bandagiert. Angeblich ist er Opfer eines Bombenattentats auf einen Bus geworden. Seine Erinnerungen sind verloren, sein Gedächtnis vollständig gelöscht. Seinen Papieren zufolge heißt er Rousseau und ist ein Hund. Das ist gut, denn in der Welt, in der Rousseau lebt, herrschen die Hunde. Bist du kein Hund, dann bist du eine Katze und somit ein Terrorist, unerwünscht, der letzte Dreck. Die Katzen stehen in "Im Land der verlorenen Erinnerung" für alle Non-Konformisten und Systemgegner. Sie werden geächtet und verfolgt.
Bis kurz vor Ende der Geschichte bleibt Rousseaus Gesicht bandagiert. Solange er sein Gesicht nicht kennt, ist ihm keine Rasse, keine Identität und somit auch keine gesellschaftliche Rolle zugeschrieben. Und ohne Gedächtnis fehlt ihm auch das Verständnis dafür, warum die Welt um ihn herum so geworden ist. Und durch das fehlende Verständnis fehlt Rousseau auch die Akzeptanz der Lage. Damit ist er prädestiniert zum Widerstandskampf gegen die wachsenden Mauern, zum Held der Katzen.
Jacoby & Stuart
Die Katzen und Hunde auf Stéphane Poulins Bildern haben nichts mehr mit flauschigen Haustieren zu tun. Sie sind menschlich, nein, vielmehr hypermenschlich. Wie schon George Orwell in seiner Animal Farm menschliche Züge am Beispiel tierischer Figuren untersucht hat, so tritt auch an Poulins Katzen-Rebellen und Hunde-Beamten das Rebellische und Beamtische noch deutlicher hervor.
"Im Land der verlorenen Erinnerung" ist eine Graphic Novel, als hätte man Kafkas Verwandlung, sein Schloss und den Prozess in den Mixer gesteckt und das was rauskam René Magritte zu trinken gegeben. Der frankokanadische Künstler Stéphane Poulin vereint in seinen eindrucksvollen Bildern eine verträumte Schwermut mit einer kalten Bedrohlichkeit. Wie zu Papier gebrachte Ausstellung durchblättert man diese Graphic Novel. Dieser Kunstwerk-Charakter wird dadurch verstärkt, dass Bildpanele und Text voneinaner getrennt sind. Manchmal gibt es einige Seiten lang nur Bilder, dann wieder nur Text. Auch inhaltlich gehen Bild- und Textebene immer wieder eigene Wege, erzählen einen eigenen Teil der Geschichte, um später wieder aufeinander zu treffen.
Jacoby & Stuart
Jacoby & Stuart
Der Text stammt vom Belgier Carl Norac und lässt sich ebenso schwer festmachen wie die Bilder. Immer wieder schweift die Erzählung in surreale Traumszenarien ab, die sich einmal stringenter, einmal fetzenhafter, zu einem Ganzen zusammenfügen. In diesem Sinne bezieht sich der Name der Hauptfigur, Rousseau, möglicherweise auf den Maler Henri Rousseau, der als ein früher Vorreiter des Surrealismus in der bildenden Kunst galt.
Wer gerne was handfeste Geschichten mag, dem rate ich eher Hände weg! "Im Land der verlorenen Erinnerung" ist eine Parabel, voll von allegorischen Katzen, Hunden und Mauern. Auf diese Graphic Novel muss man sich ein bisschen einlassen. Dann kann man die Bilder und Texte immer wieder betrachten und sich durch den Kopf gehen lassen.