Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Vgl. Judith Hermann"

Martina Bauer

Geschriebenes und zu Beschreibendes. Literatur und andere Formate.

4. 3. 2012 - 14:40

Vgl. Judith Hermann

Wo über die Autorin Hanna Lemke gesprochen wird, taucht immer wieder der Verweis zu Judith Hermann auf. Stichwort: Alter, Sprache, Sound of a Generation.

Buchcover Hanna Lemke "Geschwisterkinder", Frau spaziert in der Sonne auf einer Straße

Verlag Antje Kunstmann

"Geschwisterkinder" von Hanna Lemke ist im Verlag Antje Kunstmann erschienen.

Hanna Lemke ist Jahrgang 1981, studierte 2002-2006 am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und hat gerade ihr zweites Buch, die Erzählung "Geschwisterkinder", veröffentlicht. Ihr literarisches Debüt gab sie im Frühjahr 2010, mit 29 Jahren und dem wunderbaren Kurzgeschichtenband "Gesichertes". "Vielleicht ist sie bereits die Judith Hermann der nächsten Generation", ist Literaturpäpstin Sigrid Löffler am Klappentext des aktuellen Druckwerks zitiert.

Ich kann dazu nur sagen, ich liebe Hermanns Sprache und die von Lemke auch. Über erstere schrieb ich anlässlich von "Alice": Ihre Prosa lebe von der Atmosphäre, die sie erzeugt - von den Kleinod-Sätzen, die es schaffen, diese Atmosphäre zu erzeugen. Sehr gefühlsbetont, nicht kitschig, aber frau muss einen Zugang dazu haben.

Meine Lese-Begegnungen mit Hanna Lemke würde ich wie meinen ersten Berlin-Besuch beschreiben; ich fühle mich aufgenommen, zuhause. Und ich würde eine Stelle aus Lemkes Debüt zitieren: "Stella hatte eine Art zu sprechen, dass alles (...) bedeutsam klang, ernst und eindringlich", und hinzufügen: So empfinde ich diesen Stil. Dazu sich zärtlich-sanft anschmiegend.
Hermann und Lemke - vielleicht also nicht allzu weit voneinander entfernt?

Schwebend

Lemkes Erstling "Gesichertes" beinhaltet knapp 20 Kurzgeschichten über Menschen, die weit weg von eben diesem Gesichterem sind: oft namen- sowie heimatlose Bohemiens; Nomaden, die ihr ganzes Leben in einer Reisetasche unterbringen, Fotografen, die ihr Gegenüber bei jeden Treffen zehnmal ablichten, um die Veränderung festzuhalten oder Figuren, die zwischen den Geschlechtern schwanken.

Hanna Lemke

Markus Schädel

Das Selbstverständnis "Autorin" sei noch nicht ganz bei ihr angekommen, erzählt Hanna Lemke im Interview. Auch heute sage sie noch: "Ich möchte gern mal Schriftstellerin werden". Klar ist für sie jetzt aber, dass sie noch ein drittes Buch schreiben möchte. Und vielleicht käme diese Eigenwahrnehmung ja dann mit der Zeit.

Dieses Unverankerte ist auch den Hauptpersonen des neues Buches geblieben sowie eine gewisse Einsamkeit. Die "Geschwisterkinder" Milla und Ritschie scheinen, beide auf ihre Art, etwas außerhalb der Welt, segeln durch ein Leben, in dem sie ihren sogenannten richtigen Platz noch nicht gefunden, zudem einander kurzzeitig verloren zu haben scheinen.

Als ich die Autorin über Studioleitung in Köln erwische (wo sie abends las, sonst lebt sie nämlich in Berlin), meint sie, sie müsse erst wieder ins Reden über ihr Buch hineinkommen. Das sei erst das zweite Interview zu "Geschwisterkinder", und die Arbeit am Schreibtisch eben doch etwas komplett anderes als die Beantwortung von Fragen á la „Warum sind die Figuren so wie sie sind?“

Berechtigte Frage

Lemkes ProtagonistInnen haftet gerne etwas nicht gerade Unkompliziertes, zuweilen Undurchschaubares an. Das ergäbe sich wohl auch durch den Stil, meint die Autorin: "Ich versuche ja, möglichst wenig zu benennen und möglichst viel offen zu lassen." Gemeint sind damit biografische Detailverliebtheiten, denn das Außen wird sehr wohl - mitunter auch akribisch - beschrieben: "Das Erzählen an den Wahrnehmungen entlang, an dem, was man sehen kann, was man empfindet, das interessiert mich. Dieses genaue Ausbreiten der inneren Zustände oder auch die Erklärung, Begründung, warum jetzt alles so ist, wie es ist, das mag ich überhaupt nicht so gern."

Zwei Menschen auf einer Art Dachterasse, Cover des Buches "Gesichertes"

Kunstmann Verlag

Hanna Lemkes Debüt: Der wunderbare Kurzgeschichten-Band "Gesichteres" (Kunstmann)

Alle Arten von Schwebezuständen sind dein Thema, setze ich mit Fragezeichen hinzu und erhalte als Antwort: "Ja, das kann ich so unterschreiben. Dieses Unfestgelegte oder Sich-Nicht-Festlegen-Wollen oder das Nicht-Genau-Wissen-Wohin das ist einfach ein interessanter, vielseitiger und vielschillender Zustand. Da finde ich viel Menschliches dran. Und ich glaube, das ist ein Zustand, in den man in seinem ganzen Leben immer wieder hineinverfallen kann. Der quasi zeitlos ist."

Und so könnte das neue Buch auch wie das offene Ende eines Films gesehen werden, in dem Schatten der Zukunft auftreten, still für die Familie (nicht nur die natürliche!) plädierend. Die Gefühle und Zustände ihrer Figuren seien solche, sagt Hanna Lemke, die sie interessieren - oft weil sie selbst damit zu tun habe. Als nächstes fühlt Lemke sich übrigens am Weg zu einem dritten Buch. Im Sommer oder Herbst will sie damit beginnen. Nach dem Kurzgeschichten-Band und der Erzählung soll es ein Roman werden; jetzt steht aber erst mal ein bisschen Unterwegs-Sein mit "Geschwisterkinder" an.