Erstellt am: 25. 2. 2012 - 11:41 Uhr
Geheult ab halber Strecke
"Dead Man" von Neil Young wünscht sich Frank für das Begräbnis. Seinen Sarg hat er ausgesucht, nun ist die Musik an der Reihe. "Das ganze Album", stellt er klar. "Im Regelfall werden drei Stücke gespielt", antwortet der Mann von der Bestattung.
Der deutsche Regisseur Andreas Dresen setzt in seinem wunderbaren Spielfilm "Halt auf freier Strecke" präzise Schnitte. Dass der Tumor in Franks (Milan Peschl) Hirn inoperabel ist, dafür bekommt er kein viertes Lied extra auf seinem Begräbnis. Doch das muss Dresen nicht lange aus erzählen. Der deutsche Regisseur verklärt die Geschichte nicht. Das Ende ist von Anfang an klar: Dieser Frank Lange, der zweifache Familienvater, mit Schnauzbart und Haaren stets vor dem längst überfälligen Friseurbesuch, wird sterben.
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Doch noch geht Frank Lange zur Arbeit und steht in einem Zustelldienst an den Laufbändern bei den Paketen. Seine Frau Simone (Steffi Kühnert) ist Straßenbahnfahrerin und von der ersten Einstellung an an seiner Seite. In diese beiden Gesichtern schaut man zu Beginn minutenlang. Ein Arzt versucht, die Diagnose in einem Monolog zu erklären. Nur nicht aufhören zu reden. Tränen pressen sich aus Simones Augen. Im Kinosaal schluchzen eine Stunde später erwachsene Männer.
Nein, man sollte nicht zum Weinen und für die schöne Karthasis ins Kino gehen. Man sollte sich "Halt auf freier Strecke" anschauen, weil man Stunden danach plötzlich glücklich ist. Denn in diesem Film stecken Antworten auf viele Ängste.
Rommel Film / Foto Andreas Dresen
Unbegreiflich und für das freie Auge unsichtbar
Heute, Samstag, in FM4 Connected ab 15 Uhr: Regisseur Andreas Dresen im Gespräch mit Petra Erdmann.
"Halt auf freier Strecke" sei erneut ein "Tabubruch", befanden Kritiker. Hat doch Andreas Dresen mit dem Film "Wolke 9" schon das Tabu Sex im Alter thematisiert. Sterben wäre somit der next level. Sterben im Film muss für gewöhnlich spektakulär und vor allem schnell sein. Doch hier, in "Halt auf freier Strecke", sitzt der Tumor fest und wächst und entzieht sich dem Begreiflichen. Für das freie Auge ist der Tumor unsichtbar. Frank führt mit seinem iPhone Videotagebuch und zoomt dabei auf sein Auge, als könne er hindurch ins Hirn sehen. Im Videotagebuch führt er seine Überlegungen zum Soundtrack seiner Beerdigung fort. "Three Imaginary Boys" von The Cure und natürlich "Nevermind" von Nirvana, das seien auch gute Alben.
In diesen Momenten liegt die Schönheit des Films. Andreas Dresen wollte eine Geschichte erzählen, "die im Tod das Leben feiert". Das gelingt ihm ohne Ausflüchte. Die Diagnose ist kein Freibrief. Der Familienausflug in die Erlebnisbadewelten endet abrupt. Frank liegt mehr und mehr auf der Couch. Er findet sich im Haus nicht mehr zurecht und pinkelt ins Zimmer der Tochter. Die Familie beschriftet die wichtigsten Dinge mit Post-Its. Frank klebt eins an die Eingangstür: "Geh nicht alleine raus!!!" als selbst geschriebene Warnung.
Rommel Film / Foto Andreas Dresen
Man muss immer weiter
Der Tumor breitet sich aus, macht Frank wütend und hässlich gegen seine Liebsten. Die Veränderung braucht ihre Zeit. Dresen lässt sich Zeit. Die banalsten Alltäglichkeiten werden Herausforderungen. Als ZuschauerIn erzeugt selbst der Einkauf im Baumarkt Spannung. So tragisch die Geschichte ist: Menschen treibt die Neugier, und man muss immer weiter.
"Ist ja klar, dass du irgendwann sterben wirst. Aber ich muss hier weitermachen", wirft Simone Frank ein einziges Mal an den Kopf. Als dieses Un-Wetter von Grau und kahlen Bäumen, diese Un-Zeit zwischen Herbst und Winter endlich dem Schneefall weicht, ist man erleichtert: Andreas Dresen schenkt der Tragik keinen Sonnenschein, und er verwehrt dem Schauplatz Reihenhaus lange die winterliche Kälte, die einem schon mal gut einen klaren Kopf machen kann.
Das neu bezogene Haus wird noch lange nach Frank Langes Tod nicht abbezahlt sein. Die Kinder sind acht und vierzehn. Das Söhnchen fragt den Papa selbst, ob das stimmt, dass er sterben müsse. "Ja klar, Alter." - "Krieg ich dann dein iPhone?" Mit dem Leben wird man nicht fertig sein, nie wird man das. Für den Tod gibt es keinen geeigneten Zeitpunkt, der einem in den Kram passt.
Rommel Film / Foto Andreas Dresen
Keine Zeit für falschen Pathos
"Halt auf freier Strecke" läuft seit 23. Februar in den österreichischen Kinos.
Die Ängste, die Krämpfe und die Umklammerungen des Ehepaars nach der Erschöpfung - die Kamera hält nicht Abstand. Es ist der Schnitt, für den Jörg Hauschild verantwortlich war, der den Film zu dem Werk macht, das es ist. Ein Innehalten ist nicht drinnen, das geht sich nicht aus. Simone muss Schnee schaufeln und ein Gitterbett für den verwirrten Frank checken und der Sohn hat Hunger. In den Dialogen verrutscht kein Wort. Dresen hat sechs Monate für den Film recherchiert, mit Neurochirurgen und Angehörigen von PatientInnen gesprochen.
Rommel Film / Foto Andreas Dresen
Die Überforderung und die Versuche, die Normalität so lange wie möglich aufrecht zu erhalten, die Schwierigkeiten, einen Angehörigen zu Hause zu pflegen und sich selbst dabei nicht vollends zu vergessen - für all diese wichtigen Themen findet Dresen wie nebenbei Platz. Ohne, dass einem das nun aber wirklich zuviel wird. Es gibt zwei Hauptfiguren in diesem Film. Was Ehefrau Simone leistet und was die Gesellschaft ihr abverlangt, das lässt sich hier nicht als selbstverständlich abtun. Steffi Kühnert ist eine fantastische Heldin.