Erstellt am: 20. 2. 2012 - 15:29 Uhr
"Nehmt uns unsere Zukunft nicht weg"
"Nehmt uns unsere Zukunft nicht weg", steht auf jedem zweiten Plakat, das Studierende vor der Eötvös Loránd Universität in Budapest in die Höhe halten. Jemand verteilt Trillerpfeifen, aus einem Lautsprecher dröhnt Rockmusik. Der Schneeregen hat zwar aufgehört, aber es ist klirrend kalt, als sich die Demonstranten in Bewegung setzen.
Hunderte Studenten sind gekommen, um gegen das neue Hochschulgesetz, das Anfang des Jahres in Ungarn in Kraft getreten ist, zu demonstrieren. Sie sind dem Ruf des Hallgatói Hálozat gefolgt, einem unabhängigen Studenten-Netzwerk, das sich vor allem im Internet austauscht. Vor rund einem Jahr ist es gegründet worden. Damals, als erste Informationen über ein neues Hochschulgesetz aufgetaucht sind.
Túry Gergely
Niedergang des freien Hochschulzugangs
Zwar gibt es in Ungarn seit 2008 keine allgemeinen Studiengebühren mehr, trotzdem müssen einige Studenten zahlen. "Wer ein gutes Maturazeugnis hat und noch dazu aus einer sozial schwachen Familie kommt, wird finanziell unterstützt. Der Rest muss sich das Studium schon jetzt selbst finanzieren", erklärt David Kiss von der HÖOK, der offiziellen Vertretung der rund 450.000 Studierenden in Ungarn. Ab dem Studienjahr 2012/2013 sollen noch mehr Studenten Studiengebühren bezahlen. Die geförderten Studienplätze werden nämlich massiv verringert. Vor allem in den Fächern Jura und Wirtschaft, in denen es, der Regierung nach, offenbar schon genügend Studierende gibt.
Außerdem müssen Studenten, die finanzielle Unterstützung bekommen, in Zukunft einen Vertrag unterschreiben, der sie verpflichtet, nach dem Studium die doppelte Zeit ihrer Ausbildung im Land zu bleiben. Halten sie sich nicht daran, müssen sie die Studiengebühren zurückzahlen. "Das widerspricht völlig dem europäischen Mobilitätsgedanken. Ein großer Vorteil unserer EU-Mitgliedschaft ist ja, dass wir jetzt überall in der Union arbeiten können. Das will man uns nun verbieten", schimpft Júlia Vida, die die Demonstration des Hallgatói Hálozat mitorganisiert.
Tatsächlich geht heute fast jeder siebte ungarische Uni-Absolvent ins Ausland, wo es bessere Jobchancen und vor allem höhere Löhne gibt. Das neue Hochschulgesetz will dem nun entgegenwirken. Kritiker fürchten jedoch, dass ein verpflichtender Vertrag eher das Gegenteil bewirken könnte und Studenten gleich ihr gesamtes Studium ins Ausland verlagern würden, wo die Studiengebühren oftmals geringer und Studentenjobs besser bezahlt sind.
Zwischen umgerechnet 500 bis 900 Euro kostet ein selbstfinanzierter Studienplatz in Ungarn pro Semester. Soviel wie in etwa ein Universitätsprofessor pro Monat verdient.
Kein gemeinsamer Protest
"Nehmt uns unsere Zukunft nicht weg", schreien die Demonstranten, die mittlerweile vor der Corvinus Universität in Budapest angekommen sind. Auf dem Platz vor der Wirtschaftsuni halten sie eine Abschlusskundgebung ab. Trommelwirbel und einzelne Wortfetzen dringen durch die dicken Wände des Universitätsgebäudes. Hier sitzt der Politikwissenschaftsstudent David Kiss im Büro der HÖOK, der offiziellen Studentenvertretung, die mit der Österreichischen Hochschülerschaft vergleichbar ist.
Obwohl er die Forderungen seiner demonstrierenden Studikollegen nach einer freien Uni und gegen das neue Hochschulgesetz eins zu eins unterschreiben kann, unterstützt er die aktuelle Demonstration nicht. Einen Schulterschluss zwischen der gewählten Studentenvertretung und dem losen Netzwerk Hallgatói Hálozat gibt es nicht, erklärt David Kiss. "Das ist eine Underground Bewegung, die ganz andere Methoden verwendet als wir. Wir glauben, dass es eine Möglichkeit gibt, diese Angelegenheit am Tisch zu lösen, und sie glauben das nicht. Das ist ein großer Unterschied zwischen uns."
Die Verhandlungen der HÖOK an einem Tisch mit der zuständigen Bildungsstaatssekretärin Rózsa Hoffmann haben bisher jedoch nicht viel gebracht. Das Gesetz ist Anfang des Jahres eingeführt worden und trotz massiver Proteste dagegen wurden bisher keine Punkte zurückgenommen oder adaptiert.
Túry Gergely
Reform ja, aber nicht mit der Brechstange
Dass die Universitäten in Ungarn reformiert gehören, darin sind sich aber offenbar die meisten Studierenden einig. Auch die, die auf der Straße gegen die aktuelle Bildungsreform protestieren. Denn es gibt derzeit zu viele Studienabbrecher, ein veraltetes, zu teures System und einen Trend hin zu Masse statt Qualität.
"Eine Reform darf aber nicht überstürzt stattfinden und schon gar nicht mit der Brechstangen-Methode", sagt eine Studentin. Und deshalb wird sie, wie viele andere ungarische Studierende wohl auch in den nächsten Wochen und Monaten weiterprotestieren: für ein freies Hochschulsystem und für ein demokratisches Ungarn.
"In diesem Land haben die Menschen durch die verschiedenen repressiven politischen Systeme nie gelernt, eine eigene Meinung zu haben. Wir wollen, dass die Studenten und die Bürger rausgehen und ihre Meinung kundtun, damit Politik in Zukunft nicht nur im Parlament stattfindet, sondern bei uns allen", sagt Júlia Vida vom Hallgatói Hálozat und hält nochmal demonstrativ ihr Plakat in die Höhe: "Nehmt uns unsere Zukunft nicht weg."
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