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Rainer Sigl

Spiel, Kultur, Pop im Assoziationsblaster.

23. 2. 2012 - 14:38

Melancholie am Atlantik

"Dear Esther" entführt Spieler auf eine betörend traurige Insel am Rande der Welt.

Ein Spaziergang über eine verlassene Insel vor der schottischen Atlantikküste, ein Erzähler aus dem Off, der fragmentarisch aus Tagebüchern, Berichten und einem Brief an die titelgebende Esther liest, keine Waffen, keine Gegner, keine Rätsel: Mit "Dear Esther" erweitern Dan Pinchbeck und Robert Briscoe provokant und wunderschön das Medium Games mit den ästhetischen Mitteln des First-Person-Shooters.

Dear Esther

The Chinese Room

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Pinchbeck, Games-Forscher an der Universität Portsmouth und auch für "Korsakovia" verantwortlich, und Briscoe, Leveldesigner von "Mirror's Edge", sind für "Dear Esther" mit vier Nominierungen für die Awards des Independent Games Festivals Anfang März mit Vorschusslorbeeren bedacht worden. Dabei beruht der Mitte Februar auf Steam veröffentlichte Standalone-Titel ursprünglich auf einer bereits vier Jahre alten Modifikation für "Half-Life 2" - "Dear Esther" wurde mit Hilfe des Grafikspezialisten Robert Briscoe und Unterstützung des Indie-Funds lediglich auf Hochglanz poliert und stellt nun wohl das am besten aussehende Indie-Spiel aller Zeiten dar. Es ist aber mehr als das: "Dear Esther" ist ein Ausnahmetitel, ein narratives Experiment mit den Mitteln des Mediums.

Und ja, es ist auch eine Provokation: Es gibt so wenig zu tun in "Dear Esther", dass sich die Frage aufdrängt, ob das Ganze überhaupt noch ein Spiel ist und nicht eher eine interaktive Installation, ein Hörspiel mit Visuals zum drin Rumlaufen - oder schlicht Videospieltourismus. Betont langsam erforscht man die betörend schöne Insel und ihre Höhlenwelt, betont linear folgt man dem Pfad von ganz unten an der Küste zum höchsten Punkt.

Kunstalarm!

Trotzdem fügen sich die Einzelteile zu einem Ganzen, das nicht nur wegen seiner Mechanik ins Genre Games gehört: Der fantastische, subtile Piano-Soundtrack von Jessica Curry und die fragmentierte, zum Teil zufällig wiedergegebenen Textfragmente ergeben erst in ihrem Zusammenspiel mit der Interaktivität eine Erfahrung, die man schlicht so im Medium Games bisher nicht gesehen hat. Es ist eine Meditation in Spielform, die sich erst im Kopf des Spielers zusammensetzt.

Es sind - vor allem für das Medium Games - große Worte und große Konzepte, die sich hier aufdrängen, aber sie sind trotzdem angebracht: Für dieses Spiel kann man ohne peinliches Herumeiern Umberto Ecos Konzept des "offenen Kunstwerks" bemühen. Es gibt keine Antworten, keine "richtigen" Interpretationen, keine objektiven Aussagen: "Dear Esther" entsteht in jedem Spieler selbst und zwingt dazu, sich mit dem Gebotenen auseinanderzusetzen.

Klingt artsy-fartsy? Ein wenig kann sich "Dear Esther" dem Vorwurf nicht entziehen, zu wenig Spiel und zu viel Verkopftheit zu sein. Dagegen spricht aber die Wirkung, die dieser digitale Spaziergang entfaltet: Konzept, Überbau und sogar der Text selber treten zurück hinter die Erfahrung, selbst und in eigenem Tempo diese surreale Welt zu erforschen - und was in der Theorie angestrengt klingt, fügt sich im eigenen Spielen zu einem beeindruckenden Ganzen zusammen.

Dear Esther

The Chinese Room

A game is a game is a game

"Dear Esther" ist für Mac und Windows zum Download erschienen und kostet 7,99 €. Und bevor's Missverständnisse gibt: Mit 90 Minuten ist es ziemlich kurz - aber das Preis-Leistungsverhältnis kann locker mit jenem einer Kinokarte mithalten.

Auch die seit Jahren existente Art-Games-Crowd rund um die belgischen Entwickler Tale of Tales ("The Path") sieht in "Dear Esther" einen Meilenstein, zieht sich aber auf eine im Grunde etwas fragwürdige Position zurück: Schon im August letzten Jahres war im Rahmen einer sympathischen Rand- und Gegenveranstaltung zur Gamescom "Dear Esther" Teil einer von Tale of Tales kuratierten Schau mit dem programmatischen Titel "Notgames", inzwischen hat sich eine kleine Plattform gegründet. Wenn Spiele wie "Dear Esther" aber aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit zum Mainstream "Notgames" sind - also im Grunde per Definition vom Medium ausgeschlossen werden - stellt man originelle Experimente wie dieses selber in eine elitäre Ecke und beraubt das Medium Games seiner innovativsten Titel. Das ist eigentlich eine verlorene Chance, denn sowohl Spielern als auch und besonders (Noch-) Nichtspielern könnte gerade anhand "Dear Esther" demonstriert werden, dass die Möglichkeiten des Mediums Games bei weitem nicht so eng gesteckt sind, wie "Farmville" und "Modern Warfare" nahelegen.

Darum bleib ich dabei: "Dear Esther" ist ein Spiel, denn es nutzt sein Medium virtuos. Es erzählt eine vielschichtige Geschichte, versetzt uns an einen imaginären, einzigartigen Ort und lässt uns unsere eigenen Schlüsse ziehen. Und nein, es ist eben trotz aller Linearität nicht dasselbe, sich das Spiel als YouTube-Video-Walkthrough anzusehen. Wer das erste Mal in der beeindruckend unwirklichen Höhlenwelt der namenlosen Insel steht, versteht, warum.