Erstellt am: 20. 2. 2012 - 06:00 Uhr
Wiederfühlenlernenmüssen
Eine kleine Assoziationskette anlässlich des neuen Albums der exzentrischen Glam-/Psych-/Funkrocker of Montreal aus Athens, Georgia. Unverschämter Weise beginnt sie mit meiner Person – man verzeihe mir bitte diesen dramaturgisch bedingten Egozentrismus.
Eine Frühlingsnacht in Brooklyn im April 2009. Auf der Straße vor einer Bar wird mir zu später Stunde ein sympathisch verpeilt wirkender Typ vorgestellt, der laut Angaben "in irgendeiner Band Gitarre spielt". Kurzes Nachfragen ergibt: Diese irgendeine Band soll am nächsten Tag die ausverkaufte "Music Hall of Williamsburg" bespielen und heißt of Montreal. Der verpeilte Typ trägt den Namen Bryan Poole und schmeißt großzügig eine Runde Gästelistenplätze unter den Herumstehenden. Und so finde ich mich tags darauf inmitten einer jubelnden Partycrowd wieder und erlebe eine fantastisch abgedrehte, herrlich überladene, grellbunte Liveshow oder – um es in den Worten vom Kollegen Andreas Gstettner auszudrücken – ein "musikalisches Theater mit dunklem tiefgründigen Twist". Es wird das beste Konzert des Jahres für mich bleiben, und of Montreal sind für mich seither ein Garant nicht nur für außergewöhnliche Alben sondern auch für euphorisierende Konzerterfahrungen.
Patrick Heagney
of Montreal und Kevin Barnes
Nun ist die aus der zweiten Phase des legendären Elephant 6 Kollektivs hervorgegangene Truppe immer schon das Brainchild von Kevin Barnes gewesen, der seit elf Alben als Hauptsongschreiber, "Priester, Provokateur, Gelehrter und Umami im Herzen dieser überladenen Freakbeat Superstructure" (stole that from here, sue me) agiert. Musikalisch äußert sich das als meisterhaftes Zigzagging zwischen Indiepop, Neo-Psychedelia, Funk, Glam Rock, R&B und Disco Prog. Auf textlicher Ebene ist es zumeist ein schonungslos treffend formulierter, ironie- und zynismusgeladener, manchmal sexuell expliziter Aufmarsch von Charakteren anhand derer Kevin Barnes den ganz normalen Irrsinn unserer Existenz vorführt. Mehr denn je hat er nun mit dem aktuellen Album "Paralytic Stalks" einen kreativen Alleingang getätigt. Und während die Vorgängerplatte "False Priest" als bis dato zugänglichstes und kommerziellstes Werk von of Montreal gilt, ist Kevin Barnes diesmal schnurstracks in die entgegengesetzte Richtung marschiert. "Paralytic Stalks" ist dermaßen experimentell und stellenweise sperrig geraten, dass sich selbst der offizielle Pressetext fragt: "How do you approach an album so tantalizingly complex?" Nun, man drückt auf Play.
Kevin Barnes und seine Seelenpein
of Montreal zum Anhören: Montag, 20.02. ab 19 Uhr in der FM4 Homebase
"You can perceive the world in so many different ways. You can focus on the positive things, the sunlight and the trees growing and all the birds and animal life, all the beautiful things; or you can focus on genocide and torture, terrorism, abuse and neglect", erklärt Kevin Barnes in einem Interview. Welchen Blickwinkel er für "Paralytic Stalks" gewählt hat, offenbart sich bereits mit den ersten Worten der Platte: "You are what parasites evolved from", konstatiert Barnes im bedrohlichen aber sofort vereinnahmenden Opener-Track. Entscheidend ist, dass er diesmal nicht aus der Perspektive eines erfundenen Alter Egos erzählt, sondern einen direkten, ungefilterten Einblick in die Abgründe seiner eigenen Psyche bietet. In dieser herrschen Bitterkeit, Rachegedanken, Depression, Beziehungstraumata, Paranoia und Selbsthass. Aus seinem schwarzglitzernden Loch heraus sinniert Barnes über die dunklen Seiten der menschlichen Existenz und seine eigene Charaktergräßlichkeit: "I made the one I love start crying tonight – and it felt good", gesteht er in "Spiteful intervention" und an anderer Stelle fragt er sich: "So much violence in my head, how are we still alive?" Es ist die schonungslose, expressive Abrechnung eines gebeutelten Exzentrikers mit sich selbst.
Die Seelenpein und ihre Vertonung
Auch wenn die Texte nicht viel Ansporn zum Positivdenken geben, so klingen zumindest einige Lieder auf "Paralytic Stalks" durchwegs heiter. Die Mischung aus melodischen, euphorischen Sound-Arrangements und düster-zynischen Texten hat ja bei of Montreal Tradition und auch stimmliche Referenzen auf David Bowie oder Verbeugungen vor dem Electric Light Orchestra bleibt uns Barnes nicht schuldig. Wohl nicht zuletzt bedingt durch die Songinhalte, schlägt sein Gesang allerdings mehr als einmal von Euphorie in Hysterie um.
of Montreal
So manch Kritiker mag in "Paralytic Stalks" eine gewisse stilistische und inhaltliche Rückkehr zu of Montreals meisterhaften "Hissing Fauna, are you the Destroyer" sehen. Für mich ist diese Platte aus 2007 jedoch im Vergleich eher ein Frühlingsspaziergang – und zwar nicht nur wegen der rohen Emotionalität, die das aktuelle Werk ausstrahlt, sondern vor allem auch wegen seiner Experimentalität. Denn Barnes hat auf "Paralytic Stalks" dem traditionellen Pop-Songwriting teilweise völlig den Rücken gekehrt und sich stattdessen von Avantgarde-Klassik-Kompositionen inspirieren lassen: Statt Strophe-Refrain-Strophe-Refrain-Strukturen sind viele Stücke durchkomponiert, ohne Wiederholungen und voll von Tüfteleien mit Dissonanzen, Kakophonie und Mikrotonalität. "Exorcismic Breeding Knife" ist überhaupt nur mehr eine aus übereinandergelagerten Schichten bestehende Klanglandschaft in der man sich als Hörer unausweichlich verirren muss.
of Montreal
Die Vertonung und das Homestudio
Entstanden ist "Paralytic Stalks" in Kevin Barnes' Homestudio in Athens. Dort hat er seine Feelbadsongs geschrieben, arrangiert, aufgenommen und produziert und auch erst mal zur Verwirklichung seiner Soundvisionen Session-Musiker eingeladen – wie beispielsweise den klassisch ausgebildeten Violinisten Kishi Bashi, der auch mittlerweile zum Touring-Lineup von of Montreal gehört. An dieser Stelle muss man auch die Frage in den Raum werfen, inwieweit sich "Paralytic Stalks" überhaupt in den Werkkatalog von of Montreal einreihen lässt – oder ob sie nicht vielmehr als Soloplatte von Kevin Barnes gehandelt werden sollte.
Das Homestudio und die Welt da draußen
Es ist schwer, dieser emotionalen Tour de Force, als die sich "Paralytic Stalks" letztlich darstellt, ein schlüssiges Resümee zu geben. Vielleicht drückt die Songzeile "I need to teach myself to feel again" am besten aus, wie sehr das Album als Selbsttherapie-Prozess und letztlich als Werk von Kevin Barnes für Kevin Barnes anzusehen ist. Er selbst meint zwar: "I hope that people connect with this album and that it helps others like me to feel less troubled and less alone." "One man's catharsis is another man's burden", könnte man dieser Aussage entgegensetzen. Wer seine Hörgewohnheiten mal ordentlich herausfordern will, ist mit "Paralytic Stalks" gut bedient. Vom Einsatz der Platte auf einem geselligen Partyabend ist allerdings dringend abzuraten.