Erstellt am: 15. 2. 2012 - 11:22 Uhr
Der schlafende Schutzengel
Ich liebe es, zu schlafen. Wenn ich die Möglichkeit habe, auszuschlafen, dann tu ich das. „Du verschläfst dein Leben!“, sagt meine Mutter ständig zu mir. Sie hat natürlich recht, aber ich versuche trotzdem mein Hobby zu verteidigen: „Es ist nicht wichtig, wie lange man schläft, sondern wann man aufwacht!“ Und dann erzähle ich ihr über meinen Freund Bobara.
Bobaras bürgerlicher Name ist Christian Mohammed und er gehört trotz - oder vielleicht genau wegen - seines widersprüchlichen Namens keiner Religion an.
Er ist der fünfte Sohn einer Bulgarin und eines Irakers und ein gewöhnlicher Sofioter Skater. Die Wirtschaftskrise hat Bobar dazu getrieben, seinen geliebten Skatepark in Sofia zu verlassen. Bewaffnet mit drei deutschen Wörtern, fand er sich vor einem Jahr auf dem Wiener Flughafen wieder. Seitdem versucht er mit geringem Erfolg die Sprache von Elfriede Jelinek zu erlernen und nebenbei etwas zu arbeiten, damit er Geld nach Hause schicken kann. Das, was Bobara aber am meisten macht, ist in öffentlichen Verkehrsmitteln einzuschlafen.
Egal ob in der Bim, Bus oder in der U-Bahn – mein Freund Bobara hat die Eigenschaft so tief und fest im Sitzen einzuschlafen, dass ihn nichts wecken kann. Die U-Bahn dreht ihre Runden durch Wien und er schläft und schläft wie ein Baby. Seine schlafenden Spaziergänge in Wien sind legendär unter meinen Freunden. Einmal stieg er in die Straßenbahn, schlief ein und wachte in einem unbekannten Teil Wiens auf. Danach stieg er in einen Bus um, in dem er wieder eingeschlafen ist. Einige Stunden später und fünf Umstiege weiter, kam er genau da an, wo seine Reise begonnen hatte, ohne genau zu wissen, wie das ging.
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„Und was soll das heißen?“, fragt meine Mutter. „Einer der in der U-Bahn schläft, was ist daran zu loben? Und er schläft sicher ein, weil er besoffen ist.“ Das ist aber nicht die ganze Geschichte von Bobara. Bobara weiß immer, wann er aufwachen soll. Auf magische Weise erwacht er aus seinem tiefen Schlaf, immer kurz bevor etwas Schreckliches passiert.
Ein junges Paar war gerade dabei, einen heftigen Streit in der U-Bahn auszutragen. Genau in dem Moment öffnete Bobara, der dem jungen Paar gegenüber saß, seine Augen. Während er sich fragte, wo er diesmal hingeraten sei, war das Mädchen gerade dabei, ihren Freund heftig anzuschreien. Als sie ihn ohrfeigen wollte, reagierte mein gerade aufgewachter Freund schneller. Er fing ihre Hand und legte sie sanft auf das Knie des Jungen. Die beiden schauten ihn voller Verwunderung an, Bobara hingegen lächelte und zeigte seine großen Vorderzähne. Das zerstrittene Paar lächelte zurück. Bobara stieg aus.
Schutzengel können dort sein, wo wir sie am wenigsten erwarten. “Was hat das aber mit dir zu tun?”, will meine Mutter wissen. „Du schläfst nur zu Hause und hast noch nie jemanden gerettet.“ „Ja, aber stell dir vor, dass ich irgendwann mal auch im richtigen Moment aufwache!“ Meine Mutter kann sich nicht vorstellen, dass mir das jemals passiert. Und ihr? Glaubt ihr, dass ich mal ein Schutzengel genau wie Bobara werden kann?