Erstellt am: 25. 3. 2012 - 14:38 Uhr
Mord & Abschied
marc carnal
Marc Carnal, der schönste Mann von Wien, sammelt seit geraumer Zeit Einkaufslisten.
Unterstützt wird er dabei von einem stetig wachsenden Kreis an redlichen Helfern, die ihn regelmäßig mit am Wegesrand oder in Supermärkten aufgelesenen Zettelchen beliefern, auf denen Fremde seltsame, amüsante, wirre, ungesunde oder fragwürdige Gedankenstützen notiert haben.
Zu diesen teils zauberhaften Stichwortsammlungen verfasst Herr Carnal dann Texte und trägt diese zwischendurch auch öffentlich vor.
Termine findet man hier
Das Dilemma
marc carnal
Seit Anbeginn meiner Sammelleidenschaft war es mein großer Traum, eine Einkaufsliste zu finden, auf der nur ein einziger Begriff notiert ist. Darauf könnte man natürlich entgegnen, dass eine Liste eigentlich grundsätzlich aus zumindest zwei Begriffen bestehen muss.
Diesen berechtigten Einwand ignorierend hoffte ich trotzdem weiterhin auf eine kürzestmögliche Einkaufs-Gedankenstütze. Kürzlich übergab mir Kollege Wurm dann dieses Zettelchen.
Allerdings bin ich mittlerweile überzeugt, dass diese Notiz nie jemandem als Erinnerungshilfe beim Einkauf gedient hat. Vielmehr meine ich, dass ein Mörder sich nicht entscheiden konnte, auf welche Weise er sein Opfer richten sollte, und deshalb eine kleine Mordwaffen-Tombola fertigte, indem er Begriffe wie Flinte, Gift, Kabelbinder oder eben Rasierklinge auf kleine Zettel schrieb und danach ebendiesen zog.
Das bringt mich in ein Dilemma. Womöglich fand tatsächlich in letzter Zeit in Wien eine unaufgeklärte Bluttat statt. In der durchtrennten Kehle des entstellten Toten fand man Bartstoppeln oder gar die komplette Klinge, konnte den Fall aber bis heute nicht lösen. Anhand der DNA-Spuren auf meiner vermeintlichen Einkaufsliste, die natürlich mittlerweile auch meine und jene von Kollegen Wurm enthält, ließe sich der Delinquent überführen.
Einerseits wäre es mir etwas unangenehm, mit meiner Theorie zur Polizei zu eilen und zu brüllen: „Untersuchen Sie diesen Zettel!“ Denn höchstwahrscheinlich handelt es sich ja doch um eine harmlose Notiz. Sollte ich allerdings recht haben, ist es wiederum ausgesprochen unklug von mir, diesen Zettel samt diesem Text zu veröffentlichen, denn der Unhold bekäme daraufhin Angst und würde mir nach dem Leben trachten.
Sollten ich also demnächst tot aufgefunden werden und in der Nähe wird ein kleiner gelber Zettel gefunden, auf dem nur der Begriff „Axt“ geschrieben steht, bringt mir das zwar nichts mehr, aber trotzdem: Dann hatte ich Recht!
Abschiedsbrief
marc carnal
Lieber Gerald,
das ist mein Abschiedsbrief. Ich kann nicht mehr. Es mag für dich etwas plötzlich kommen, vielleicht hast du die Zeichen in letzter Zeit aber richtig gedeutet. Ich habe das auf jeden Fall getan.
Alles hat an jenem Samstag im Oktober begonnen, als wir bei deinen Großeltern eingeladen waren. Du erinnerst dich? Auf der Heimfahrt habe ich die vielen unausgefüllten Parkscheine in deinem Handschuhfach gefunden und war sprachlos. Zuerst dachte ich freilich, ich würde etwas missverstehen. Doch die scheinbaren Missverständnisse wurden mehr und verdichteten sich zu einem Verdacht, der sich nun endgültig bestätigt hat.
Doch der Reihe nach:
Als du mir zu Weihnachten Karten für die Oper geschenkt hast, und zwar ausgerechnet für den ersten Februar, also jenen Tag, der zumindest für mich unter keinem guten Stern steht, hatte ich erneut dieses lähmende Gefühl, konnte es aber noch immer nicht richtig einordnen.
Dann der Silvesterabend: Du warst ausgerechnet mit Lisa und Marcel im Garten und hast ein Feuerwerk nach dem anderen gezündet. Zwei Tage später sehe ich auf deinem Schreibtisch dann eine Versicherungsbestätigung liegen. Bitte glaub mir, dass ich dir nicht nachspioniert habe, aber das Wort „Auslandsreiseschutz“ war in dicken Lettern gedruckt und sprang mir sogleich in die Augen. Schließlich fand ich letzte Woche noch ein zweites Brillenetui unter dem Sofa. Wie du sicher noch weißt, habe ich es dir mit Tränen in den Augen gezeigt – Du hast nur mit den Schultern gezuckt und bist dann zum Tennis gefahren. Mit Heinz! Ich heulte den ganzen Abend. Zu diesem Zeitpunkt war die anfängliche Vermutung eigentlich schon zur Gewissheit geworden, vielleicht wollte ich es mir aber einfach noch nicht eingestehen.
Doch als ich heute Morgen deine Arbeitshose waschen wollte und darauf ganz eindeutig eine Vanillezucker-Kruste entdecken musste, war mir endlich alles klar:
Mein lieber Gerald… Ich bin völlig paranoid! Und ich kann nichts dagegen tun. Ich finde, das hast du dir nicht verdient, denn du bist ein guter Kerl. Wer Vanillezucker auf seiner Arbeitshose kleben hat, kann doch eigentlich kein schlechter Mensch sein, oder?
Ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du dein Glück findest.
Alles Liebe,
Deine Dani