Erstellt am: 12. 2. 2012 - 11:13 Uhr
Zurück in die Zukunft
Moment mal, ist das ein neuer Film der französischen Kitschpäpste Jeunet-Caro? Oder handelt es sich um eine zuckersüße Produktion der Disney Studios? Die ersten Eindrücke täuschen. Der Regisseur dieses dreidimensionalen Event-Spektakels heißt tatsächlich Martin Scorsese.
Ja genau, der Mann, dem wir verstörende Studien der urbanen Einsamkeit und gnadenlose Gangsterfilme verdanken, avancierte Historienstreifen und flirrende Rock’n’Roll-Movies, dieser Großmeister des Erwachsenenkinos, er hat es jetzt auf die Zielgruppe der lieben Kleinen abgesehen.
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Ich muss zugeben, dass mich im Vorfeld von „Hugo Cabret“ eine extreme Skepsis gepackt hatte. Auch der Trailer wirkte noch nicht richtig überzeugend, selbst wenn darin atmosphärische Momente aufblitzten. Erst die ersten euphorischen Reviews aus den USA, von vertrauenswürdigen Kräften verfasst, ließen meine Stimmung steigen.
Und dann, im dunklen Kinosaal, beginnen sie mit jeder Filmminute zu schwinden, die anfänglichen Befürchtungen, dass der verehrte Martin Scorsese vielleicht eine Kommerzauftragsproduktion eingeschoben hätte, um im beinharten Hollywoodbusiness des Hier und Jetzt zu überleben. „Hugo Cabret“ ist ein zutiefst persönlicher Streifen des Regiegenies, getarnt als flockiges Kino für die ganze Familie.
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Kinder-Abenteuer und gloriose Hommage
In prachtvollen Studiokulissen und mit einem virtuosen Einsatz der 3D-Technik, wie man sie seit „Avatar“ nicht mehr gesehen hat, lässt Scorsese die dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts auferstehen.
Die entfesselte Kamera folgt den Spuren des Waisenjungen Hugo Cabret (der Newcomer Asa Butterfield), der sich in den Labyrinthen des Pariser Bahnhofs Montparnasse versteckt. Der melancholische Bub führt im Geheimen die Aufgabe seines verstorbenen Vaters weiter, die riesigen Bahnhofsuhren in Gang zu halten. Daneben lebt er von harmlosen Diebstählen in den umliegenden Geschäften, stets verfolgt von einem manischen Polizeiinspektor (Sasha Baron Cohen).
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Liebevoll und manchmal zugegeben an der Grenze zur überzogenen Niedlichkeit erzählt der Film von dem schrulligen Mikrokosmos in dem riesigen Gebäude. Dabei rückt Scorsese neben Hugo und seiner kleinen Freundin Isabelle (die charmante Chloe Moretz) vor allem einen alten Spielzeughändler, gespielt von Ben Kingsley, immer mehr in den Mittelpunkt.
Der grimmige Herr entpuppt sich als niemand geringerer als George Méliès, einer der zentralen Pioniere der Filmgeschichte, der seinen Regieberuf voller Bitterkeit verleugnet. Spätestens mit dieser Wendung, die auf historischen Tatsachen beruht, entwickelt sich „Hugo Cabret“ vom verschmitzten Kinder-Abenteuer zu einer gloriosen Hommage an die Frühzeiten der Cinematographie.
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Erziehungsauftrag ohne Zeigefinger
Mit seiner Verneigung vor der Vergangenheit steht Martin Scorsese nun sicher nicht alleine da im Augenblick. Kritische Stimmen wie Georg Seeßlen oder auf diesen Seiten Martin Blumenau sehen das Kino in einer Zeitschleife gefangen, in der es keinerlei dringliche Bezüge zur Gegenwart mehr gibt, nur mehr eine Massenflucht in den wohligen Bereich der Nostalgie, egal ob es sich um die vorige Jahrhundertwende oder nur um die neonbunten Achtziger handelt.
Man mag über so unterschiedliche Streifen wie „The Artist“ oder „Super 8“ denken was man will, „Hugo Cabret“ nimmt zumindest den Begriff Retrofuturismus wortwörtlich. Scorsese benutzt elegant sämtliche zukunftsorientierten Technologien des 3D-Films, um der Stummfilmära zu huldigen. Und er schafft auch inhaltlich Verbindungen vom Früher ins Heute, in dem er von den Anfängen eines Kinos der Schauwerte und visuellen Attraktionen erzählt, von der Lust an der Illusion und Täuschung, auf der sämtliche aktuellen Fantasy-Blockbuster basieren.
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Mit dem Strang über George Méliès befinden wir uns auch auf dem ureigenen Terrain von Martin Scorsese, bei einem Herzensthema von ihm. Denn der Filmfanatiker, Filmhistoriker und Filmrestaurator zählt mit diversen Dokumentationen und Projekten längst zu den wichtigsten Lehrmeistern in Sachen Filmgeschichte.
Mit „Hugo Cabret“ weitet er seinen Erziehungsauftrag ganz ohne Zeigefinger auf Kinder aus. Aber auch Erwachsene sollten keine Angst haben, sie werden mit einem opulenten, unverschämt romantischen, stellenweise magischen Film belohnt.
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