Erstellt am: 11. 2. 2012 - 12:58 Uhr
Best of Moleskine mit Fußnoten
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Der Aphorismus ist eine nicht tot zu kriegende Literaturgattung. Er findet sich auf Abreiß-Kalendern, Silvester-SMS-Orgien und hat dank genreimmannenter Knappheit oft und gerne auch in 140 Zeichen Platz. Er schmeichelt der Intelligenz des Autors und ebenso dem Erinnerungsvermögen des Rezipienten. So geschehen bei "Die Kuh in meinem Kopf", dem gerade erst erschienenen tumblr-blog in Buchform des Hamburger Autors (und auch sonst viel) Stephan Grötzner.
http://www.tradedoubler.com/index.html
Eine Zufallsbildersuche nach "Aphorismus" ist leider wenig erhellend.
Wenn das Buch aber nur Aphorismen hätte, wäre das auch nicht mehr zeitgemäß. Wir leben schließlich im Jahr 2012. Das heißt: "Genregrenzen sprengen" ist schon mehr Zwang als Leitmotiv. Grötzner schmeißt in das Buch alles rein, was wohl in letzter Zeit in den unzähligen Moleskines seines Vertrauens entstanden ist. Zusammenhänge sind konstruierbar, aber nicht notwendig. Das Buch ist voller Mini-Prosa, Lyrik-Ansätze, Charms'scher Absurdidäten und vor allem Fußnoten. Dieses verhasste Lieblingskind der wissenschaftlichen Literatur hat es Göetzner anscheinend angetan. Seine Seitenlayout-Zerstörer sind bisweilen ausgesprochen unterhaltsam und lehrreich:
Die hier vertretene Auffassung des Kynozentrischen ist ausgesprochen olfaktorisch, sodass man sie mit Recht auch rhinozentrisch heißen könnte. Eine Philosophie, die die Nase in den Mittelpunkt stellt und behauptet: "Ohne Riechorgan keine Erkenntnis der Wirklichkeit" muss sich die Frage gefallen lassen, wie denn dieses Riechorgan sich selbst wahrnimmt. Da die Nase sich schlecht selbst beschnüffeln kann, ist sie dann in einer rein olfaktorischen Welt überhaupt existent?
Grötzner ist ein kluger Kopf, versteckt das aber leider nicht. Er hat seinen Marx und vor allem seinen Derrida im Hinterstüberl und lässt das den Leser spüren. Aber nur im ersten Teil des Buches, das den hübschen Genitiv-Orgien-Titel "Einige Anmerkungen zur ersten Hälfte der ersten Fußnote des ersten Kapitels der Derrida'schen Grammatologie" trägt. Danach versucht er sich als bereits erwähnter absurder Russe, gern auch traurig:
Literaturverlag Droschl
"Die Kuh in meinem Kopf" von Stephan Grötzner ist im Literaturverlag Droschl erschienen.
Ich sitze am Kamin und wärme mir die kalten Füße.
Freilich bin ich schon sehr alt und habe immer kalte Füße.
Man könnte mich Großvater nennen, doch habe ich weder Kinder noch Kindeskinder.
Ich spiele gern mit Puppen.
Freilich bin ich schon sehr alt und habe immer kalte Füße.
Ich liebe es, die Puppen im Feuer schmelzen zu sehen und mir meine Füße daran zu erwärmen.
Manchmal glaube ich, die Puppen schreien zu hören.
Großvater, rufen sie, Großvater!
Ach, wie mir das das Herz erwärmt.
Die maximal auf zwei Seiten ausgedehnten Texte lassen manchmal schmunzeln, nie lachen und meistens umblättern. Es ist wie ein Buch, das so manchem Kaffeehaus-Studienabbrecher unter den Nägeln brennt. Leseempfehlung für Menschen, die sich gerne gegenseitig vorlesen und danach "Mhm" sagen und für den Toilettengang zwischendurch. Und wirklich viele Aphorismen kommen übrigens gar nicht vor. Aber ich bin bis zum Ende des Buches diesen leicht fahlen Abreißkalender-Geschmack einfach nicht losgeworden.