Erstellt am: 15. 2. 2012 - 15:30 Uhr
Das Ende der radikalen Märkte
„Wenn wir die Konzerne schon nicht stoppen können, sollten wir sie wenigstens vor uns hertreiben“, rät der britische Politikwissenschaftler und Soziologe Colin Crouch und fragt sich, wie der Neoliberalismus die aktuelle Krise so unbeschadet überstehen konnte. Eine berechtigte Frage in einer Welt, in der es einfacher ist, sich den Untergang der Welt vorzustellen (ein Blick ins Kinoprogramm genügt), als das Ende des Kapitalismus - vor allem nach einer Reihe von gigantischen Marktversagen.
EPA
Seit der Pleite der Lehman Brothers im September 2008 ist das neoliberale Konzept der befreiten Märkte in der Krise. Nachdem das Mantra vom Markt und von der Privatisierung seit den siebziger Jahren in aller Munde war, sollten nun die Regierungen eingreifen, um systemrelevante Banken zu retten. Die Kompetenz der Wirtschaftsführer stand massiv in Frage. Heute, nur drei Jahre später, sind die Einkommen der Manager wieder gleich hoch wie vor dem Crash. Ein Chef eines Dax-Konzerns verdient im Schnitt ein Festgehalt von 1,3 Millionen Euro pro Jahr, der Bonus beträgt 2,3 Millionen. Gleichzeitig wurde die Finanzkrise zur Staatskrise erklärt, und zur Refinanzierung der Rettungspakete werden unter anderem staatliche Sozialleistungen gekürzt. Und trotzdem: Die Logik des radikalen Wettbewerbs und des unternehmerischen Selbst prägt nach wie vor unsere Mentalität.
Gigantisches Marktversagen
In seinem Buch „Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“ untersucht Colin Crouch die Wirtschaft unserer Gegenwart. Vor allem multinationale Konzerne, so Crouch im FM4-Interview, hätten sich in den letzten Jahrzehnten als „dritte Kraft“ neben der Opposition von Markt und Staat etabliert. Es tobt ein Dreikampf zwischen Markt, Staat und Großkonzernen.
Die gegenwärtige Wirtschaftskrise ist für Crouch ein Marktversagen gigantischen Ausmaßes. Obwohl er gleichzeitig keinen Zweifel an den Vorzügen des Marktes lässt, der, verglichen mit dem, was wir viele Jahre von den sozialistischen Volkswirtschaften kannten, für die Befriedigung der Bedürfnisse der Verbraucherinnen und Verbraucher sehr nützlich sei.
Aber nur in der Theorie
suhrkamp
Der Markt funktioniert jedoch nur unter perfekten Bedingungen, und die gäbe es nur in der Theorie. Alle Teilnehmer müssen ungehinderten Zugang zum Markt haben, und aus diesem auch wieder ungehindert austreten können. Doch sind die Banken der Gegenwart zu groß für einen Marktaustritt. Sie wurden für „systemrelevant“ erklärt. Das verzerrt das freie Spiel der Märkte.
Das zweite große Problem der neoliberalen Wirtschaftstheorie ist, so Crouch, der Preis. Der Markt kann nur Dinge bereitstellen, die einfach ge- und verkauft werden können. Um Dinge aber, die nicht handelbar sind, könne sich der Markt nicht kümmern. Dabei gibt es in der Theorie für alles einen Preis. Man könne etwa fragen: „Wie viele Orangen ist ein Passagierflugzeug wert?“ und tatsächlich eine sehr präzise Antwort darauf geben. Wenn man aber sagt: „Ihre Krebsoperation ist so und so viele Orangen wert“, wären die meisten Menschen angewidert. Die eigene Gesundheit kann nicht mit dem Wert von Orangen aufgewogen werden.
Bereiche wie Gesundheit, Bildung, Sozialfürsorge oder Landesverteidigung sollten deshalb vom Prinzip des Preis-Mechanismus als Entscheidungsgrundlage ausgeschlossen bleiben.
Schmale Informationsbasis an den Börsen
Auch die Markttransparenz ist für Crouch ein rein theoretisches Konstrukt. In der Theorie müsste jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer über alle relevanten Informationen verfügen. Die Informationen haben aber selbst einen Preis. Reiche stützen ihre Entscheidungen auf den Rat professioneller Expertinnen und Experten und können so ihr Einkommen schneller steigern als Kleinanleger. Auch der Aktienpreis, der seit den 1970er Jahren als vollkommen effizientes Informationsinstrument gilt, ist für Crouch nur eine „sehr schmale Informationsbasis“. Er sei in hohem Maße von Annahmen und Spekulationen beeinflusst. Dazu kommt, dass die Geschwindigkeit, mit der an den Börsen gehandelt wird, rasant angestiegen ist.
Eines der schlimmsten Beispiele dafür waren die Finanzmärkte der letzten Jahre, wo Menschen mit Kapitalanlagen handelten, von deren Wert sie keine Ahnung hatten. „Sie hatten es so eilig, sie weiterzuverkaufen und schnelle Profite zu machen, dass es sie gar nicht kümmerte, was sie eigentlich besaßen. Das war das große Informationsversagen von Leuten, die darin absolute Experten sein sollten. Das hat uns direkt in die Krise geführt“, so der Politologe.
Von der Finanzkrise zur Staatskrise
Die Verantwortung für die gegenwärtige Wirtschaftskrise liegt aktuell bei den Nationalstaaten. Nach dem Crash von 2008 wurden die großen Banken von den Staaten finanziell gerettet oder gar verstaatlicht. Für Crouch ist dies nicht nur ein Zeichen dafür, dass die Wirtschaft einen wachsenden Einfluss auf die Politik ausübt, sondern auch eine konsequente historische Entwicklung.
Die Deregulierungs-Programme der letzten Jahrzehnte lösten das „sozialdemokratische Wirtschaftsmodell“, wie er es nennt, langsam ab. Seine These dazu umfasst zwei Aspekte: Wir hätten den Staat vermutlich überlastet und ihm mehr zu tun gegeben, als er bei der bei der Bewältigung komplexer Probleme im Stande war zu tun. Der zweite Aspekt, und das ist ein völlig anderes Argument: „Der Staat ist gar nicht inkompetent geworden, aber bestimmte Unternehmen, die die Geschäfte des Staates für ihre eignen Profite nutzen wollten, starteten Kampagnen gegen den Staat. Eisenbahnen zum Beispiel, Schulen oder Altersheime sollten von privaten Unternehmen geführt werden, weil sie effizienter wären. Also eine Art Irreführung oder Aushöhlung des Staates“
, so Crouch.
Dazu kommt, dass vom Neoliberalismus beeinflusste Regierungen immer mehr versuchen, klassische staatliche Aufgaben nach dem Vorbild privatwirtschaftlicher Unternehmen zu organisieren, oder sie sogar an den privaten Sektor auszulagern. Dies würde zu einer starken Verflechtung von Politik und Großkonzernen beitragen. Ein Beispiel dafür ist die Rolle von Großkonzernen in der US-amerikanischen Regierung.
„Der gesamte Prozess der Deregulierung des Finanzsystems wurde von Menschen in führenden Investmentbanken geleitet, insbesondere von Goldman Sachs. Sie entwickelten ein Deregulierungsprogramm, das den Unternehmen passte. Und die Regierung setzte es um. Ich denke, es ist die große Bestürzung und Enttäuschung der letzten Jahre, dass die gleichen Menschen von Barack Obama in Toppositionen ernannt wurden. Wir dachten alle, Obama wäre der Mann, der sich gegen diese Macht der Investmentbanken stellen wird, aber er wird von ihnen umgeben. Und sie schreiben seine politischen Agenden.“
Das Zeitalter der Postdemokratie
Diese Beobachtungen fasste Colin Crouch 2004 unter dem Begriff Postdemokratie zusammen. Die Vorsilbe post deutet auf eine vergangene Ära hin. Wir würden also schon in einem Zeitalter nach der Demokratie leben. Postdemokratie, so Crouch, zeichnet sich durch eine Gesellschaft aus, in der zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden; die öffentliche Debatte kontrollieren allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten. Wahlkämpfe wären zu einem reinen Spektakel verkommen, die diskutierten Probleme nur konstruiert. Privilegierte Eliten, wie „bestimmte Unternehmer“ haben durch Lobbyismus einen wesentlich größeren Einfluss auf die Regierungen als andere Interessensgruppen, so seine These.
Die politische Ordnung wurde von der ökonomischen Elite der Gegenwart gekapert. Die Wirtschaftseliten bemächtigten sich des Staates und privatisieren die Politik zu ihrem eigenen Interesse. Vieles deutet für den Politologen darauf hin, dass das Ausmaß in dem heute organisierte ökonomische Interessen Einfluss auf die Politik gewinnen noch niemals so groß war in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg. Es hat den Anschein, als ob wir es mit einer Abdankung des Politischen zu Gunsten des Ökonomischen zu tun haben.
Regime Shopping
Im Unterschied zur Politik, die in erster Linie nationalstaatlich organisiert ist, agieren die Großkonzerne international. Sie haben die Möglichkeit, gezielt in Ländern zu investieren, deren Gesetze dem Unternehmen günstig erscheinen. Der Einfluss von nationalen Regierungen auf die globale Wirtschaft ist dadurch relativ klein. Auf kurze Sicht würden die großen Unternehmen der Industrieländer in „billigere“ Länder abwandern. Das Ergebnis auf längere Sicht ist eine Anpassung der Sozialleistungen an die Interessen der Industrie, ein „Wettlauf in Sozialabbau“ oder Regime Shopping, so Crouchs Diagnose.
Große Konzerne suchen sich dabei die Investitionen in fremden Ländern nach ihren eigenen Bedingungen aus. Sie sagen, so Crouch: „Wir werden in jenes Land gehen, das das niedrigste Niveau an Arbeitsmarktregulierung hat. Wir werden in einem Land investieren, das uns erlaubt, die Umwelt zu schädigen.“ Damit üben sie Druck auf die Regierungen aus. Sie fragen: „Wollen Sie, dass wir ein neues Werk in Ihrem Land bauen? Nun, in diesem Fall, gibt es bestimmte Bedingungen, die wir haben.“
Der Lobbyist im Plenarsaal
Möglich wurde Regime-Shopping erst durch vermehrtes Lobbying in den letzten Jahrzehnten. Der Begriff der Lobby hatte ursprünglich eine architektonische Bedeutung. Im Parlament ist die Lobby der Vorraum oder die Empfangshalle, ein Ort außerhalb des Plenarsaals. Der Zutritt zum Plenarsaal, wo die politischen Debatten geführt werden, ist nicht möglich. Lobbying bietet insofern die Möglichkeit, die politischen Akteure zu beeinflussen, ohne die Entscheidung selbst beeinflussen zu können. Eigentlich ein wirksames Instrument demokratischer Meinungsmache für Unternehmen, Gewerkschaften, Umweltverbände und andere Interessensgruppen, wie Crouch meint. Der Begriff der Lobby hat sich aber grundlegend verändert.
Die Vorstellung eines armen Bürgers, der vor dem Plenarsaal sitzt, in der Hoffnung einen Parlamentarier am Weg in den Sitzungssaal sein Leid klagen zu können, würde nicht mehr der Realität entsprechen. Vielmehr würden etwa in den USA längst finanziell potente Akteure um die Möglichkeit buhlen, Kongressabgeordneten ihren Vorwahlkampf zu finanzieren – unter bestimmten inhaltlichen Voraussetzungen natürlich.
„Wenn wir uns die Art und Weise ansehen, wie Investment-Banken und andere Unternehmen es geschafft haben, direkt in den Entscheidungsprozess zu kommen, ihre Leute tatsächlich in die Arena der politischen Entscheidungen zu hieven, dann geht dies über Lobbying hinaus. Diese Firmen sitzen nicht draußen, sie sind längst innerhalb des Plenarsaals“
, so Colin Crouch im FM4-Interview.
Corporate Social Responsibility als Ausweg?
Bei der Suche nach Auswegen aus zunehmend undemokratischen Verhältnissen und einem neoliberalen Wettlauf im Sozialabbau, wie Colin Crouch sie skizziert, setzt er interessanterweise auf eine Strategie, die aus den Unternehmen selbst kommt. Corporate Social Responsibility, was mit „unternehmerischer Selbstverantwortung“ übersetzt werden könnte, ist ein Konzept, das seit den 1950er Jahre existiert, aber vor allem in letzter Zeit immer wichtiger wurde. Es bezeichnet den freiwilligen Beitrag der Wirtschaft zu einer nachhaltigen Entwicklung, die über die gesetzlichen Forderungen hinausgeht. Ökologische Aspekte können hier relevant sein genauso wie die Arbeitsverhältnisse von Angestellten. Mit dem Konzept Corporate Social Responsibility versuchen Unternehmen ihre langfristigen Interessen zu sichern. Dafür nehmen sie auch kurzfristige Kosten in Kauf, etwa für die Verringerung der Umweltschädlichkeit.
Für Crouch eine zweideutige Entwicklung: „Dagegen spricht, dass die unternehmerische Selbstverantwortung nicht Gegenstand einer Prüfung oder einer externen Debatte ist. Sie wird im Geheimen formuliert und ist oft Teil der Werbung. Man ist misstrauisch. Auch, weil die Firmen ihre Themen selbst wählen können. Eine Lebensmittelfirma könnte etwa propagieren, dass sie ihre Thunfische fängt, ohne dass dabei Delphine dabei zu Schaden kommen. Gleichzeitig könnte sie aber birmanische Sklaven auf ihren Fischerbooten beschäftigen. Deshalb ist man kritisch eingestellt und sieht darin ein begrenztes Konzept. Und in gewisser Weise ist es Teil auch der wachsenden Macht der Konzerne.“
Andererseits, so Crouch, eröffnet die Corporate Social Responsibility ein komplett neues Feld von sozialem und politischem Aktivismus. Die Konsumenten und Konsumentinnen können durch ihre Kaufentscheidungen ihre Wertvorstellungen zum Ausdruck bringen. Nachhaltiger Konsum lautet das passende Stichwort dazu. Gleichzeitig gibt man mit seinem Konsumverhalten ein politisches Statement ab, indem man etwa nur Markenartikel kauft, die sich ihrer Umweltfreundlichkeit oder „fair gehandelter Produktion“ rühmen. Corporate Social Responsibility wird dann nicht mehr vom Unternehmen allein bestimmt, sondern auch von Bürgerinnen und Bürgern.
Bürgerinitiativen bekommen mit diesem Konzept die Möglichkeit, Großkonzerne zum Einlenken zu bewegen. Öffentliche Kampagnen, die Missstände in der Wirtschaft aufzeigen, setzen die Unternehmen unter Druck. Die Zivilgesellschaft hat damit ein mächtiges Instrument zur Verfügung, so Crouch.
Die Zivilgesellschaft als Korrektiv?
Die Schlagkraft der zivilgesellschaftlichen Kampagnen liegt in ihrer Internationalität. Und so könne aus der Debatte rund um unternehmerische Selbstverantwortung eine international politische Arena werden. Da der Staat viel zu eng verstrickt mit den multinationalen Konzernen dieser Welt ist, sei ihm seine Funktion als wirtschaftliches Korrektiv abhandengekommen. Und diese Leere wird bis zu einem gewissen Grad von der Zivilgesellschaft ausgefüllt. Bürgerinitiativen, NGOs, Umweltorganisationen und Menschenrechtsgruppierungen wären das neue ökonomische Korrektiv. Sie stellen sich der Macht der Großkonzerne entgegen und machen ihre Verstöße gegen soziale oder ökologische Grundsätze öffentlich.
Die politische Last, die man dadurch der Zivilgesellschaft auflädt, ist groß. Aber trotzdem: In den Augen von Colin Crouch ist die Zivilgesellschaft die Wegbereiterin für eine neue, global agierende Politik. Sie arbeitet einerseits für ihre eigenen Anliegen und feiert dabei große Erfolge, anderseits ebnet sie den Weg für eine Ausweitung der traditionellen politischen Agenda.