Erstellt am: 4. 2. 2012 - 11:48 Uhr
Disziplin!
Es gibt wenig Themen, die mich schneller zum Überkochen bringen als dieses, man verzeihe mir also den Verlust der journalistischen Contenance:
Kinder schlagen.
Finden viele Briten völlig okay, sehr unsympathischerweise. Ja, ich weiß schon, auch in Österreich werden Kinder geschlagen, aber die soziale Akzeptanz dieser Gewalt ist eine wesentlich geringere.
Letztes Wochenende hat David Lammy, der für Tottenham zuständige Parlamentarier (Labour), in einem Interview mit dem für aufgeregte Kleinbürger zuständigen Sprechradiokanal LBC folgendes von sich gegeben: „Viele BewohnerInnen meines Wahlkreises sind nach den Riots auf mich zugekommen und haben der Labour-Regierung die Schuld dafür zugeschoben, indem sie sagten: 'Ihr Typen habt uns davon abgehalten, unsere Kinder zu schlagen.'“ (Im Original sagte er „smack“. Das heißt übersetzt eher „klapsen“ oder „ohrfeigen“, gemeint ist ein Schlag mit der offenen Hand, wohin auch immer, ich werde aber der Klarheit wegen beim Wort „schlagen“ bleiben.)
"Diese Eltern haben Angst..."
Er habe zuerst nicht viel von diesem Vorwurf gehalten, sagte Lammy, aber dann habe er sich's anders überlegt: „Diese Eltern haben Angst, ihre Kinder zu schlagen und werden paranoid, weil sie glauben, dass die Sozialarbeiter sich einmischen und ihre Kinder wegnehmen werden.“
Er fügte hinzu: „Das Gesetz erlaubte früher 'vernünftige Züchtigung', aber die derzeitige Gesetzeslage verhindert Handlungen, die zu einer Rötung der Haut führen – was für viele meiner nicht-weißen Einwohner nicht wirklich ein Thema ist.“
EPA / STEFAN ROUSSEAU
In diesem unterschwelligen Hinweis auf die mutmaßliche Weltfremdheit eines nur für Weiße gemachten Gesetzes schwang ein makabrer Anklang auf das nicht selten mit Stolz verbreitete Stereotyp mit, wonach Schwarze ihre Kinder mit besonderer Härte prügeln.
Lammy bekannte sich des weiteren dazu, dass er selbst seine eigenen Kinder, drei und fünf Jahre alt, schlägt, „vor allem, um sie vor Gefahr zu bewahren“.
Lammy hat ein Buch zu verkaufen. Es heißt „Out of the Ashes: After the Riots“. Er ist ein erfahrener Politiker und wusste wohl genau, dass er mit seinen Aussagen beim Großteil der britischen Presse zustimmende Schlagzeilen einfahren würde, hat seinen Aufruf zum Kinderschlagen also nicht nur aus Überzeugung, sondern auch aus kommerziellem Interesse in der Öffentlichkeit gestreut.
"Schlagen auf verantwortungsvolle Art"
In den auf seinen gut kalkulierten Ausritt folgenden Interviews machte Lammy sein Interesse am Kinderschlagen dann auch noch zur Klassenfrage:
„Ich glaube, es gibt eine liberale Elite, die zumeist über die Mittel verfügt, um außerschulische Aktivitäten und Privatschulen dafür einzusetzen, den Kindern zu verstehen zu helfen, dass es Grenzen gibt. Viele Eltern würden nie davon träumen, ihre Kinder zu schlagen, aber andere tun es, auf verantwortungsvolle Art, und sie sollten sich dadurch nicht stigmatisiert fühlen.“
Es dauerte nicht lange, ehe ihm ein klassischer Spross der von rigiden Schulmeistern disziplinierten Oberschicht fraktionsübergreifenden Beistand leistete. Auch Londons Bürgermeister Boris Johnson meinte, die Leute fühlten sich in ihrer Aufgabe, „ihren Kindern Disziplin aufzuerlegen“ verunsichert darüber, „ob das Gesetz sie unterstützen“ würde: „Ich glaube, dass es eine Art Bestätigung geben sollte, dass im Zweifelsfall für die Eltern entschieden wird, und dass sie in dieser Hinsicht als die natürlichen Autoritätsfiguren angesehen werden sollten. Natürlich will man auch keine Lizenz für körperlichen Missbrauch haben, das ist sehr wichtig“, sagte Johnson.
Allerdings. Da gab es schließlich vor ein paar Jahren in David Lammys Wahlkreis den Skandal um das sogenannte Baby P, ein Kleinkind, das von seinen Eltern buchstäblich zu Tode geprügelt wurde, obwohl dem Sozialamt die immer wieder mysteriös auftretenden Verletzungen des Kindes bekannt waren.
Aber im Zweifelsfall wurde auch da für die Erziehungsberechtigten entschieden. Bis Baby P tot war. Und da gaben dieselben Medien, die im Chor mit Lammy den Terror der Schnüffler von Sozialamt beklagen, wem die Schuld? Dem Sozialamt natürlich, das die Warnsignale erkennen hätte sollen.
Paramount
Ich könnte nun all jene bekannten Argumente von der Perpetuierung der Spirale körperlicher Gewalt vorbringen. Oder die immer wieder befremdende Beobachtung, dass eine Gesellschaft, die in ihrer Pädophilie-Hysterie geradezu pathologische Angst vor jeder zärtlichen Berührung zwischen Kindern und Erwachsenen hat, gleichzeitig so verdächtig leidenschaftlich in an Sado-Maso-Vokabular grenzenden Tönen vom Kinderschlagen schwärmt.
Stattdessen könnte ich aber auch einfach auf ein Detail hinweisen, das neulich schon in die Story über David Camerons Vorstoß in die Welt der Filmförderung gepasst hätte. In einem Radio-Interview darauf angesprochen, welche britischen Filme er selbst möge, nannte der Premier, der gemeinsam mit Boris Johnson in Eton zur Schule ging, ausgerechnet If...., den Lindsay-Anderson-Film aus dem Jahre 1968 über die körperliche Misshandlung von Internatsschülern, sowohl untereinander als auch durch den sadistischen Lehrkörper, gefolgt von einem gewaltsamen Aufstand der Eleven.
Soweit ich mich erinnern kann, mäht Malcolm McDowell als rebellischer Schüler, der vorher von seinen Lehrern blutig geschlagen wurde, am Schluss des Films seine Peiniger mit einer Maschinenpistole nieder.
Hat wohl nicht ganz so funktioniert mit der Züchtigung in diesem Fall. Ich weiß ja nicht, ob Lammy und Johnson „If...“ gesehen haben. Sollten sie aber. Vielleicht borgt ihnen David die DVD.