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Daniela Derntl

Diggin' Diversity

2. 2. 2012 - 19:13

Theoretiker-Techno

Drexciya, Detroit & the Deep Sea. Clone Records veröffentlicht eine essentielle, vierteilige Retrospektive der futuristischen Unterwasser-Mythologen.

Drexciya habe ich nicht in einem Club oder Plattengeschäft entdeckt, sondern auf der Uni, bei einem Seminar über elektronische Musik. Kaum drehte der Professor den elektrifizierenden Techno auf, wurde es merklich kühler im Saal. Gänsehaut und Katharsis waren die Folge, als würde der pulsierende Sound von Drexciya einer Salzwasserlösung gleich meine Ohren befreien. Ein großes Aha-Erlebnis: der klare und dunkle Elektro hat mich mit seinem repetitiven Funk sofort in das Reich der Drexciyaner eingesogen. Luft anhalten, weil Sprache verschlagen, und Abtauchen.

Drexciya war vielleicht das visionärste Detroit-Techno-Kollektiv der Neunziger. Sie haben mit ihrem Sound und Artwork eine eigene Vision entwickelt. Laut ihrer Mythologie sind die Drexciyaner im Wasser lebenden Nachkommen afrikanischer Sklaven. Ihre Mütter wurden bei der Überfahrt nach Amerika von Bord gestoßen und die Säuglinge mutierten zu einer Art Amphibien, die ein schwarzes Neo-Atlantis bevölkern und dort Musik machen. Die klingt dann auch so kühl und dunkel wie der Meeresgrund. Die Tracks tragen entsprechende Titel wie "Wavejumper", "Sea Quake", "Hydro Theory" etc.


Drexciya gehen den Weg der Evolution zurück ins Meer und erschaffen ein visonäres, aber rätselhaftes postmodernes Paradies mit einer eigenen afrikanisch-amerikanischen Identität. Ihr hydraulischer Klang-Körper setzt sich aus radikalem Roboterfunk und melodiöser Maschinenmusik zusammen, der auch 20 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung frei von Algen-Ablagerungen ist. Referenzgrößen im Schaffen von Drexciya waren einerseits die Kollegen aus Detroit wie z.b. Juan Atkins und Derrick May, aber auch Kraftwerk, George Clintons "Aqua Boogie" und "Water babies" von Miles Davis haben das Duo inspiriert.

Nach dem Tod von James Stinson macht Gerald Donald unter verschiedenen Pseudonymen weiterhin Musik, z.B. als Dopplereffekt oder Heinrich Müller.

Lange Zeit wusste niemand, wer sich hinter Drexciya verbirgt. James Stinson und Gerald Donald haben mit ihrer Anonymität und Verweigerung von Interviews und Bildaufnahmen die Legendenbildung um Drexciya geschürt. Ihr Widerstand gegen jede Form von Fremdbestimmung ist auf fruchtbaren theoretischen und literarischen Boden gefallen wie z.B. in "Hellblau", dem Roman des deutschen Popkultur-Theoretikers Thomas Meinecke und Kodwo Eshuns "Heller als die Sonne".

Plattencover "Journey of the Deep Sea Dwellers"

Clone Records

Das Cover der Drexciya-Compilation

Das nun erschienene Album "Journey of the Deep Sea Dweller" auf dem niederländischen Label Clone Records ist ein Querschnitt durch die ersten fünf Jahre ihres Schaffens und wurde von dem Italo-Disco-Experten Alden Tyrell neu gemastert. 12 Nummern des Albums wurden zwischen 1992 und 1995 schon einmal veröffentlicht, hauptsächlich auf Vinyl und so namhaften Labels wie Underground Resistance, Tresor und Warp.

Eine bisher unbekannte Nummer namens "Unknown Journeys" findet sich auch auf dem Album und es ist naheliegend, dass auf den nächsten drei Teilen der "Best-of-Drexciya–Compilation" mehr unveröffentlichtes Material enthalten sein wird. Denn James Stinson hat in seinem einzigen Radio-Interview kurz vor seinem Tod im Jahr 2002 gesagt:

"Even if i die next week or whatever, there will still be a lot of music left, i have a nice stock pile left, oh yeah!"

Das letzte Interview von James Stinson im Mai 2002 auf WDET 101.9 FM Detroit