Erstellt am: 2. 2. 2012 - 19:55 Uhr
ACTA und sein "böser Zwilling"
Die wahrscheinlich beste Beschreibung der Reaktion des Handelskommissars Karel de Gucht auf die Massenproteste gegen ACTA sei eine "Mixtur aus Irritation and Arroganz", schreibt der auf EU-Recht spezialisierte finnische Anwalt und Rechtsblogger Ralf Grahn.
De Gucht hatte auf die zunehmend wütende Kritik von Netzaktivisten am "Anti-Piraterie"-Abkommen ACTA reagiert - indem er ihnen nicht antwortete. De Gucht schrieb vielmehr an den Ausschuss für internationalen Handel des EU Parlaments und zieh Organisationen wie La Quadrature du Net der Verbreitung von Falschinformationen.
Öl ins ACTA-Feuer
Mit dieser Vorgangsweise wurde erst recht angetan Öl ins Feuer zu gegossen, in Folge wurde der 11. Februar zum weltweiten Protesttag gegen ACTA ausgerufen. Auch in Österreich formiert sich der Widerstand.
Die de Gucht'schen Irrationen aber erklären sich wie folgt. Die Letztversion des umstrittenen Abkommens enthält eine ganze Reihe von "Kann"-Bestimmungen, die - für sich gesehen - nicht klar aussagen, warum sie überhaupt im Text stehen. Viele Punkte in der Letztversion von ACTA erscheinen auch deshalb obsolet, weil sie in der vorliegenden Form von allen EU-Staaten ohnehin längst umgesetzt sind.
Wechselweises Nicht-Verstehen
Das ist der Knackpunkt für die Irrationen und die letztlich beleidigte Reaktion seitens der EU-Kommission. Fast alle dieser "Kann"-Bestimmungen waren nämlich in den früheren Phasen der ACTA-Verhandlungen ein "Must" gewesen. Die Änderungen im Entwurf aber sind vor allem auf das Drängen der Kommission zurückzuführen.
Die fühlt sich jetzt unverstanden und versteht selber nicht, dass diese "Verhandlungserfolge" nicht gewürdigt werden, sondern dass die Kritik sich sogar radikalisiert.
"Another brick in the wall"
ACTA wird von der Protestbewegung nämlich als der neueste "Brick in the wall" gesehen und deshalb angegriffen. Das jahrelange Hin- und Her um Vorratsdatenspeicherung, laufende Verschärfungen zugunsten der Inhaber "geistiger Eigentumsrechte" in allen möglichen Richtlinien und schließlich Internetsperren haben immer mehr Benutzer für solche Verfahren sensibilisiert.
Diese Sperren nach Urheberrechtsverstößen waren in den früheren ACTA-Versionen erst als "Muss", sodann als "Kann"-Bestimmung und schlussendlich nur noch indirekt enthalten. Es zeichnete sich bereits länger ab, dass es für eine solche Maßnahme auf EU-Ebene keine Mehrheit gibt.
In Beispiel für die Ziegel-These in Österreich ist die Initiative "Zeichnemit.at" des AK Vorratsssdatenpeicherung. Binnen Monatsfrist sind die Unterzeichner dieser Petition auf etwas unter 50.000 hochgeschossen. Das ist ein Ausmaß, das alles anderen Proteste in der .AT-Domain seit 1995 um Längen übertrifft.
ACTA, SOPA/PIPA
Schon etwas deutlicher wird das Gesamtbild, wenn man ACTA im globalen Zusammenhang betrachtet und das ist in diesem Fall ein "Must". ACTA sollte als Vertragswerk ein internationales Verbindungsglied zu den SOPA/PIPA-Gesetzesvorhaben in den USA darstellen.
Die sahen ebenfalls Internetsperren vor, allerdings anders herum: Nicht die Benutzer sollten ausgesperrt werden, sondern "illegale Inhalte" auf Basis des Domain-Name-Systems, - so wie es mit WikiLeaks vorexerziert worden war. Nach einem Machtwort aus dem Weißen Haus waren SOPA/PIPA quasi über Nacht auf Eis gelegt worden. Die Proteste hatten dazu zwar beigetragen, ausschlaggebend für die Entscheidung dafür aber war eine völlig andersartige Interessenskollision.
Clash der Interessen
Die Ziele der Unterhaltungskonzerne aus den USA und Japan, die ACTA aus der Taufe gehoben hatten, laufen hier in einem Punkt diametral gegen die Interessen von Geheimdiensten und FBI. "Internetsperren" sind nämlich keine Sperren, sondern bloße Umleitungen auf eine andere Domain, auf der eine Nachricht über die Beschlagnahme der betreffenden Domain steht.
Ebensolche automatische Umleitungen auf DNS-Basis aber werden von Cyber-Kriminellen dazu benützt, von irregeleiteten Benutzern Passwörter abzugreifen. Deswegen treiben US-Dienste wie Polizeibehörden den DNSSEC-Standard voran, der verschlüsselte Kommunikation zwischen Browser und DNS-Server vorsieht.
Wer da der "böse Zwilling" ist
Während der unerwartet heftigen Proteste in den USA wurde ACTA als "böser Zwilling" von SOPA/PIPA bezeichnet, was so nicht ganz stimmt. SOPA/PIPA sind zwar sozusagen enge Verwandte auf US-Boden- um in der Diktion zu blieben - der wahre ACTA-Zwilling aber ist ebenfalls international ausgerichtet und heißt TPPA (Trans-Pacific Partnership Agreement).
Dieses etwa zwei Jahre nach ACTA gestartete Verfahren betrifft den pazifischen Raum, inhaltlich sieht es aber den frühen ACTA-Versionen zum Verwechseln ähnlich.
Imperialistische Züge
Getarnt ist es als Handelsabkommen, doch das gesamte Vertragswerk, dessen aktueller Stand wie bei ACTA strikt geheimgehalten wird, geht weit über ein reines Handelsabkommen hinaus. In einzelnen Punkten, die bis jetzt durchgesickert sind, zeigen sich nachgerade imperialistische Züge, die in der EU-Version ACTA bereits hinter einer Unzahl von schwammigen Formulierungen versteckt worden sind.
Wie aus den wenigen, bisher geleakten Einzelheiten zu entnehmen ist, werden da Rechteinhabern - also in erster Linie Unterhaltungs-, Medien- und Pharmakonzernen - neue, noch weitergehende Rechte eingeräumt. Wie bei ACTA läuft alles auf die Erschwerung bis Verhinderung sogenannter "Parallelimporte" von Waren aller Art hinaus und richtet sich auch gegen Produzenten von völlig legalen "Generika".
Mehr über den bösen Zwilling TPPA
Mitsprache der Konzerne bei Gesetzen
In einem Punkt schießt TPPA aber noch weit über ACTA hinaus. Den internationalen Konzernen wird im Vertrag die Möglichkeit von Schadenersatzklagen mit hohen Streitwerten gegen die Regierungen der TPPA-Unterzeichnerstaaten eingeräumt. Alles läuft hier auf ein indirekte Mitspracherechte der Konzerne bei künftigen, nationalen Gesetzesänderungen bezüglich "geistiger Eigentumsrechte" hinaus.
Das war in ACTA, das mehr auf Europa fokussiert, so natürlich nicht durchsetzbar. Bei TPPA rechnet man schon damit, dass die USA unterstützt von den Verbündeten Neuseeland und Australien, den übrigen TPPA-Staaten - die wohl nicht ganz freiwillig dabei sind - ihren Willen aufzwingen können: Brunei, Chile, Malaysia, Peru, Singapur und Vietnam.
Aktuelle Rechtsanalyse
Eine aktuelle, ebenso ausgewogene wie luzide, juristische ACTA-Analyse der deutschen Anwaltskanzlei Ferner-Alsdorf kommt zu einem ganz ähnlichen Schluss, wie er hierorts gezogen wird. Viele von den Befürchtungen der ACTA-Gegner stünden so nicht direkt im Text des Abkommens, insofern wird der Kritik des EU-Kommissars in Teilen Recht gegeben. Man solle also die Kirche im Dorf lassen und Befürchtungen nicht übertreiben, rät Anwalt Jens Ferner.
"Mit dem Finger auf ACTA zu zeigen, ist nicht der Hinweis auf das Problem, sondern nur auf das Symptom" heißt es weiter, ACTA sei sozusagen nur ein Meilenstein in einem großangelegten strategischen Plan.
"Krieg gegen das freie Internet"
"Es soll der Durchsetzung der Rechte nach dem bisherigen Muster dienen, und in diesem (Denk-)Muster ist die 'digitale Welt' ein Problem, das angegangen werden muss... Das Feindbild ist deutlich: Das 'digitale Umfeld'. Mit dieser Prämisse kann nichts gutes dabei heraus kommen – der Grundgedanke von ACTA ist der Grundgedanke des Kriegs gegen das in seiner Kommunikation freie Internet, somit der gegen die Bürger. Insoweit kann man ACTA für Europa durchaus als Büchse der Pandora betrachten", so der Anwalt.
"Das Anti-Counterfeiting Trade Agreement/ACTA und das deutsche Recht" - die Analyse von Anwalt Jens Ferner handelt jeden einzelnen, eventuell kritischen ACTA-Punkt gesondert ab. Das Meiste davon dürfte auch für österreichisches Recht gelten.
Europäische Lizenzen, Tantiemen, Bilanzen
Zahlen aus Quellen, die keineswegs der Protestbewegung nahe stehen, zeigen was hier für ein finanzieller Abgrund zwischen den Interessen von vier Fünftel der EU-Staaten und jenen von Frankreich, England, den USA und Japan klafft.
Eine bereits im vergangenen Sommer für das EU-Parlament fertiggestellte, aber - merkwürdigerweise - erst vor wenigen Tagen veröffentliche ACTA-Studie der Universität Maastricht enthält unter anderem eine gesamteuropäische Bilanz für "geistige Eigentumsrechte".
Dabei werden Einnahmen und Ausgaben für Lizenzzahlungen, Tantiemen, usw für jeden einzelnen EU-Staat heruntergebrochen.
Hierzulande: 700 Millionen minus
Der eingangs zitierte Blog des finnischen Rechtsexperten Ralf Grahn
Österreichs Handelsbilanz in puncto "geistige Eigentumsrechte" ist mit 700 Millionen ebenso tiefrot wie die Bilanzen von vier Fünftel aller EU-Staaten. Während Frankreich, Großbritannien, Schweden Holland und Dänemark - in dieser Reihenfolge absteigend- ein Einnahmen-Plus zwischen fünf Milliarden und einer Mrd. lukrieren, ist etwa Deutschland mit über drei Milliarden Miesen sogar noch was über dem EU-Durchschnittsdefizit von 2,5 Mrd. Euro.
Die Studie im Auftrag des EU-Parlaments zum Theme "Music Crossing Borders", samt detaillierten Länderstatistiken.
Die Vergleichszahlen aus Japan und den USA, den "Eltern" von ACTA und TPPA sowie der vorläufigen Missgeburt SOPA/PIPA: 73 bzw. 68 Milliarden Plus in der globalen Handelsbilanz für "geistige Eigentumsrechte".
(Nicht)-Popmusikmarkt Europa
Weitere Zahlen, betreffend grenzüberschreitende "geistige Eigentumsrechte" aus dem Musikbereich: Basierend auf den Daten des Marktforschungssunternehmens Nielsen Soundscan hat das European Music Office unter dem Titel "Music Croѕsing Borders" (EMO) eine Studie zum "länderübergreifenden Popmusikmarkt" Europa erstellt. Ergebnis: Diesen länderübergreifenden EU-Popmusikmarkt gibt es zumindest für den Mainstream nicht.
"The updated version of the report commissioned by EMO in partnership with Eurosonic Noordeslag and Nielsen."
Laut EMO/Nielsen hat es nur ein Song aus Österreich in einem anderen EU Land (Deutschland) während der Studie in die Top 200 Airplay oder Downloadcharts geschafft. 14 EU-Staaten haben keinen einzigen Mainstream-Titel, der das Heimatland verlässt und nennenswerte Umsätze im EU-Ausland macht. Im Gegensatz dazu waren 86 Titel aus Großbritannien in den Top 200 vertreten.
Aber "auch das Repertoire aus Großbritannien hat Schwierigkeiten Grenzen zu überschreiten" heißt es, "nur wenige britische KünstlerInnen haben pan-europäische Erfolge". Und: "Die einzige Musik, die ohne Einschränkungen Grenzen überschreitet, ist Repertoire aus den USA."