Erstellt am: 1. 2. 2012 - 12:28 Uhr
"Oh du Tiger, hast du denn Geld?"
In der Nähe des Volkstheaters wurde wieder ein schickes, neues Nachtlokal eröffnet. „Versai“ heißt dieser Tanztempel, der sich hinter dem Sofioter Archäologiemuseum, in 100 Meter Entfernung vom Präsidentschaftsgebäude befindet. Anscheinend kennt sich der Besitzer dieser Disko mit französischer Rechtschreibung nicht gut aus, aber das stört seine Klientel wenig. Vor dem Club „Versai“ parkt eine weiße Limousine. Ein Mann mit dickem Nacken und rosa Hemd und eine Frau mit riesigem Dekolleté und aufgespritzten Lippen steigen aus dem Auto und betreten die Nachbildung des Palasts des französischen Sonnenkönigs in Sofia.
„Oh du Tiger, hast du denn Geld? Hast du denn Geld und schöne Frauen? Oh du Tiger, hast du denn kein Geld, dann hast du nur alte Omas“.
Das Lied „Tigre, Tigre“ von Rado Schischarkata und Popa war einer der ersten Hits von einer Musikrichtung, die in den folgenden Jahren nicht nur den bulgarischen Musikmarkt beherrschen sollte. „Tschalga“ (serbisch „Turbofolk“, rumänisch „Manele“, mazedonisch „Tshalgija“) ist ein Begriff, der gleichzeitig Musik sowie Weltanschauung der dominierenden Subkultur auf der Balkanhalbinsel bezeichnet. Tschalga verbindet bulgarische, serbische, rumänische, griechische, türkische, arabische und Roma-Melodien mit den Standards der MTV-Popmusik aus den USA.
Das bulgarische Wort „Tschalga“ stammt vom türkischen „çalgı” (Musik). Während der osmanischen Herrschaft wurden in Bulgarien bei Hochzeiten und Familienfeiern ethnisch gemischte Orchester engagiert, genannt „Tschalgien“. Das Repertoire dieser Orchester variierte zwischen Balkan-Folk, Stadtliedern und westeuropäischer Musik wie Polkas und Walzer. Die Musiker der „Tschalgien“ konnten keine Noten lesen, ihr Spielen war von Improvisation gekennzeichnet. Nach der Machtübernahme der Kommunisten wurden die „Tschalgien“ als ästhetisch unvereinbar mit den Idealen des Kommunismus verboten.
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In den 1980er Jahren erlebte die „Tschalga“ ihre Renaissance, zuerst in Jugoslawien, bekannt als Turbofolk. Lepa Brena, Ceca Velickovic und Schaban Schaulic wurden insgeheim aber auch in Bulgarien gehört. Sie waren dem Volk viel näher als die vom kommunistischen Staat tolerierte Popmusik. Anstatt kommunistischer Tugenden förderten sie bei Bauern und Arbeitern genau das, was sie gerne machen wollen: essen, trinken und auf dem Tisch tanzen. Gleich nach der Wende fingen die Bulgaren auch selbst an, Turbofolklieder zu machen. „Ich bin jetzt eine Demokratin, Bruder, ich habe meine Freiheit. Ich will 100 Mercedes besitzen, die ich 100 Jahre fahren kann“, sang die Sängerin Cvetelina in einem der ersten bulgarischen „Tschalga“-Lieder. Dieser und andere unvergessliche Hits wie „Tigre, Tigre“, „Radka Piratka“, „Doko-doko“ erklangen aus Trolleybuskabinen, Zeitungsbuden und Börekständen.
Genau zu dieser Zeit drehte sich auch die Wertesystempyramide der Bulgaren um: Die vom Kommunismus geförderten Physikprofessoren mussten in Mülltonnen wühlen, um zu überleben. Die starken Burschen, die mit Pistolen herumschießen konnten, um ihre Probleme zu lösen, kamen in Mode. Bulgarien wurde von den so genannten „Versicherungsfirmen“ regiert, die deine Zeitungsbude abfackeln, wenn du dich nicht versichern lässt. Die Musik der „Versicherer“ war die „Tschalga“. Ähnliche Wünsche wie Cvetelina, aber auch die bulgarische Wirtschaftssituation in den späten 1990ern besingt die bulgarische Madonna, Sascha Vaseva, in ihrem Lied „Levovete v Marki“: „Tausch deine Leva in Mark, oder wenigstens in Dollar um, sonst kriegst du heut keine Titten“. Damals befand sich Bulgarien in einer tiefen Wirtschaftskrise und Hyperinflation, die bulgarische Währung verwandelte sich binnen Stunden in Klopapier.
Nach den ersten wilden Jahren fing die „Tschalga“ an, sich technisch zu entwickeln. Der bekannteste bulgarische Showmaster Slavi Trifonov und seine hochprofessionelle Band holten die „Tschalga“ aus den Kabinen der Lastwagenfahrer und brachten sie in die Stadien. Der Song „Edno Ferrari s cviat cherven“ (Ein roter Ferrari) wurde zur Hymne der Nation. „Ein roter Ferrari für mich und einer für dich“, singt Trifonov. Das ganze Volk sang mit und jeder träumte von einem roten Ferrari. Und das, obwohl die Straßen in Bulgarien so schlecht sind, dass ein Geländewagen viel nützlicher ist.
Payner.bg
Ein Mann namens Mitko Dimitrov alias Mitko „Paynera“ machte die „Tschalga“ zur Geldmaschine. Das Musiklabel „Payner“ produziert heute in Bulgarien alles, was man als „Pop“ bezeichnen kann. Der „Tschalgapapst“ Mitko „Paynera“ ist außerdem Besitzer des Musikfernsehsenders „Planeta“, der in jeder Dorfkneipe rauf und runter läuft. Die Sängerinnen von „Payner“ Ivana, Gergana, Preslava, Desi Slava, Anelia und Kamelia sind die neuen Musiksuperstars Bulgariens. Sie werden alle nach dem gleichen Schönheitsideal hergestellt: spärlich bekleidet, mit Silikon in Brüsten und Lippen. Gerüchten zufolge gibt es auch eine Preisliste, nach der man sich eine „Payner“-Sängerin für seine private Party bestellen kann. Je nach Preis können sie nur singen, singen und sich ausziehen, singen, sich ausziehen und blasen. Für Blasen ohne Singen muss man am tiefsten in die Tasche greifen. Einer der begehrtesten Berufe unter jungen Mädchen in Bulgarien ist „Tschalga“-Sängerin. Um eine zu werden, muss man nicht unbedingt singen können. Man braucht nur einen reichen Daddy oder einen Mafiosi-Freund, der für die Silikon-OP zahlt.
Die wenigen „Versicherer“ aus den 1990er Jahren, die noch am Leben geblieben sind, sind heute anständige Businessmen. Alle politischen Parteien in Bulgarien kämpfen um ihre finanzielle Unterstützung. Für einige wurde der Traum von den „100 Mercedes“ wahr. Vor dem „Versai“ und den anderen Tschalgadiskos in Sofia sind Hunderte teure Mercedes, BMWs und Audis geparkt. Die Fahrer der Mercedes haben aber ihre Jogginghosen, ihre Goldketten und ihre rauen Manieren aus den ersten wilden Jahren des Turbofolks behalten. Ich kehre dem Club „Versai“ den Rücken zu. Ich habe mich niemals für Schlösser interessiert.