Erstellt am: 1. 2. 2012 - 07:04 Uhr
Occupy 2012
Weitere New York State Of Mind Folgen u.a. mit David Byrne, Justin Vivian Bond, Chris Taylor und Laurie Anderson unter fm4.orf.at/nysom
Man kann von der Protestplattform halten was man will, Occupy Wall Street hat im vergangen Jahr unser aller Bewusstsein besetzt. Die neunundneunzigprozentige Empörung über die einprozentige Ignoranz hat zu einem lustvollen Nachdenken und Diskutieren über konkretes politisches Versagen im Zusammenhang mit der weltweiten Finanzkrise und ihre demokratiegefährdende Dynamik ausgelöst. Niemand konnte und sollte sich dem Ruf der 99% entziehen.
Christian Lehner
Selbst nach der Räumung des symbolträchtigen Zeltlagers und Zentrums von Occupy Wall Street im Herzen Manhattans ist der Puls der Bewegung spürbar. Fast täglich setzt es kleine und mittelgroße Aktionen in allen five boroughs – mal werden in East New York zur Zwangsversteigerung freigegebene Häuser besetzt, mal werden in Manhattan Gerichtsgebäude zum Protest gegen die Citizens United Entscheidung okkupiert (seit dem Spruch des Obersten Gerichts im Frühjahr 2010 können Firmen anonym und uneingeschränkt Wahlkampfspenden an ihre Wunschkandidaten fließen lassen).
Occupy-Rethorik im laufenden Wahlkampf
Doch der OWS-Geist hat auch die Rhetorik der hohen Politik erfasst. Die Macht der Banken zurückdrängen und für eine faire Gesellschaft eintreten, das versprach Präsident Obama vergangene Woche in seiner State Of The Union -Ansprache: „I will not go back to the days when Wall Street was allowed to play by its own set of rules”, erklärte er dem versammelten Kongress und einem Millionenpublikum vor den Fernsehgeräten.
AP
Die Rede klang, wie im Zuccotti Park verfasst. Obama kündigte an, eine Sondereinheit zur Bekämpfung der Finanzkriminalität zu gründen, den in die Kreditklemme geratenen Hausbesitzern und Studenten zu helfen, die Lücken zu Steueroasen im Ausland zu schließen und den Insiderhandel von Kongressmitgliedern zu unterbinden. Selbst die umstrittene Transaktionssteuer ist kein Tabuthema mehr. New Yorks Govenor, Andrew Cuomo, hat noch vor Ablauf des alten Jahres eine Steuererhöhung für Spitzenverdiener bei gleichzeitiger Entlastung des Mittelstandes beschlossen. Selbst bei den Vorwahlen der Republikaner wird plötzlich zwischen Kapitalismus und Raubtierkapitalimus unterschieden und Einkommens- und Steuerungleichheit offen diskutiert.
Vom Zuccotti-Park ins Gewerkschaftsbüro
Will McCutcheon und Karanja Gaçuça könnten zufrieden sein. Doch die beiden Occupy Wall Street Aktivisten sind skeptisch. Sie haben Ähnliches schon einmal gehört und wurden dann – wie so viele junge US-Bürger - bitter enttäuscht. Beide haben bei der Obama-Kampagne 2008 als Freiwillige mitgearbeitet. Nur einer wird ihn wiederwählen. Jetzt stehen mir der Tontechniker der M.I.A.-Touren und der Ex-Wall-Street-Analyst Rede und Antwort zum Ist- und Sollzustand von Occupy Wall Street. Eigentlich wären mindestens drei bis vier AktivistInnen für den Roundtable vorgesehen gewesen. Aufgetaucht sind aber nur die zwei Burschen. Nicht ideal aber auch gut.
Christian Lehner
Während die Occupations an der Westküste derzeit gehörig unter Druck geraten, überwintern die New Yorker Aktivisten in von Gewerkschaften und anderen Gönnern zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten. 50 Broadway ist die Adresse, an die ich nach mehreren Wochen der Anbahnung hinbestellt werde. Zu Zeiten der Okkupation genügte noch ein Spaziergang in den Park, um mit den Aktivisten in Kontakt zu treten. Die Überwindung der neuen Unnahrbarkeit ist eine der größten Herausforderungen des Movements Post-Liberty Square. 50 Broadway liegt nur wenige Blocks vom ehemaligen Zeltlager entfernt und somit auch in unmittelbarer Nähe zur Wall Street. Es ist ein schmuckloser Büro- und Wohnsilo, der von einer Lehrergewerkschaft betrieben wird.
Das Office im 17. Stock wirkt wie eine Kreuzung aus Großraumbüro und Studenten-WG (ohne Schlafzimmer). Die Wände der grauen Office-Cubicles wurden mit bunten Revolutionscollagen behübscht. Hier ein Occupy-Spruch, dort das Konterfei von Dr. Martin Luther King Jr. Es ist Vormittag und nur wenige OWS-Menschen gehen ihrer Organisationsarbeit nach. Der Konferenzraum ist verwaist, ebenso die Küche. Ein Typ von der PR- und Press-Workinggroup, den sie „Fixx“ rufen, bittet mich, nicht allzu viele Fotos zu schießen und das Office – wenn möglich – nicht als Occupy-Wall-Street-Hauptquartier zu bezeichnen. „Keine Paranoia“, sagt er, „aber wir ziehen bald um und die einschlägige Presse behauptet dann wieder, wir hätten unser 'Hauptquartier' verloren und stünden kurz vor dem Aus. BS!“ Gemeint ist v.a. Rupert Murdochs Boulevardblatt New York Post, das gegen OWS eine Dauerschmuddelkampagne fährt.
Warten auf den Frühling
Karanja Gaçuça fährt sich lachend über den kahlrasierten Kopf. „In deren Augen sind wir bloß verdrogte Hippies, die nichts arbeiten wollen“, sagt der aus Kenia stammende Absolvent der London School of Economics. Im September hat er seinen Job an der Wall Street verloren. Seit seinem öffentlichkeitswirksamen Auftreten bei Occupy Wall Street wird er jedoch wieder vermehrt von Recruitern der Finanzindustrie umworben. Bei OWS ist Karanja für ökonomische Fragen und PR zuständig. Will McCutcheon stammt aus einer politisch engagierten Familie aus dem Süden. Der Großvater war Kongressmitglied, die Eltern Friedensbewegte der 68er Generation. Will arbeitet in der Küchengruppe und ist seit dem 1. Oktober, als er mit Hunderten weiteren Demonstranten bei einem Protestmarsch über die Brooklyn Bridge verhaftet wurde, Teil der Bewegung.
Christian Lehner
Was Will und Karanja zu sagen haben über ihre Motive, Erfahrungen und Hoffnungen, über die momentanen Aktivitäten und die Zukunft von Occupy Wall Street, über den drohenden Split zwischen Reformern und Sozialutopisten, über das anstehende Präsidentschaftswahljahr und die Hoffnung auf einen baldigen Frühling, wenn die Bewegung erneut erblühen soll, gibt es bis 9. Februar zum Nachhören:
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artist | song | |
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New Party Systems | We Are | |
Santi Gold feat. Karen O | Go! | |
Neutral Milk Hotel | Ghost | |
Sleigh Bells | Comeback Kid | |
Bill Callahan | America! | |
Public Enemy | Fight The Power! | |
The National | Fake Empire | |
Kanye West (Gil Scott-Heron) | Who will survive in America |