Erstellt am: 28. 1. 2012 - 15:12 Uhr
Vom Verwesen der Dinge
DuMont Verlag
Dass in amerikanischen Kleinstädten nicht immer alles mit rechten Dingen zugeht, das weiß man spätestens seit David Lynch und Stephen King. Niceville heißt der pittoreske Ort im Süden der USA, in dem Carsten Strouds gleichnamiger Roman spielt. Und wie unschwer zu erraten ist, ist es in „Niceville“ alles andere als nett. Immer wieder verschwinden Menschen spurlos aus dem verschlafenen Städtchen. Unter den altmodischen Straßen brodeln dunkle Geheimnisse.
In einer so hübschen Stadt, sagte sie sich, konnte doch gar nichts Schlimmes passieren, oder?
Man sieht Niceville vor sich stehen. Mit seinen Jahrhundertwendehäusern und den breiten, gepflasterten Alleen. Alles getaucht in ein sanftes goldenes Licht, das den ganzen Ort unwirklich erscheinen lässt. Ein bisschen wie im Disneyland. Fast schon zu eindeutig zelebriert Carsten Stroud auf den ersten Seiten seines Romans dieses Idyll, fast zu einfach ist dann die obligatorische Dekonstruktion von Niceville. Wie alle anderen Träume, so ist auch dieser ein flüchtiger.
Der Tod ist ein Vogerl(schwarm)
Angst blitzt auf, als ein Junge spurlos verschwindet. Unruhe setzt ein, als Bankräuber vier Polizisten in Stücke schießen. Es sind nicht die ersten beunruhigenden Geschehnisse in Niceville. Aber bisher hat man so getan als gäbe es sie nicht. Die Zeit des Abwartens und Stillhaltens ist vorbei.
Er spähte in die Finsternis des Esszimmers. Gray Haggard wollte gerade die Türen zuschlagen und fortlaufen, als ihm urplötzlich etwas aus der Schwärze entgegen schoss wie ein riesiger Schwarm Krähen, die direkt auf ihn zuflogen. Im Bruchteil einer Sekunde sah er spitze schwarze Schnäbel und pechschwarze Augen, in denen ein grünliches Licht schimmerte. Er hatte das Gefühl gefressen zu werden. Es dauerte weit länger, als sein Geist ertragen konnte. Gegen Ende war er nicht mehr er selbst. Das Ding fraß weiter, und nach einiger Zeit war Gray Haggard aus der Welt der Lebenden verschwunden.
Selten manifestiert sich das Übernatürliche und Unheimliche so konkret in „Niceville“. Zumeist fließt es unsichtbar und unbemerkt durch die Straßen und Gebäude, sickert aus allen Fugen, dringt in jeden Körper ein. Autor Carsten Stroud schreibt großartige Figuren: harte Cops und zerbrechliche Familienmütter, resolute Seniorinnen und grantige Antiquitätenhändler bevölkern Niceville; und sie alle springen einen förmlich an, so klar werden sie beschrieben.
Ein amerikanisches Loch
Für die Dramaturgie des Romans sind sie dennoch bedeutungslos, denn Carsten Stroud denkt topografisch. Der Ort selbst fängt zwischen den Seiten zum Leben an. Wie ein schlafendes Monstrum verströmt er andauernde Gefahr.
Tatsächlich hatte Sylvia schon immer gefunden, dass Niceville eines der schönsten Städtchen im ganzen tiefen Süden hätte sein können, wenn es nicht aus irgendeinem unerfindlichen Grund im langen Schatten von Tallulah’s Wall erbaut worden wäre, einem riesigen Kalksteinfelsen, der den Nordostteil der Stadt überragte. Sie konnte ihn von dort, wo sie jetzt war, sehen: eine gelbe, mit Ranken und Moos bewachsene Wand, so hoch und breit, dass bestimmte Viertel im Osten der Stadt erst nachmittags von der Sonne beschienen wurden. Oben auf dem Felsen standen uralte Bäume um ein kreisrundes, mit kaltem schwarzem Wasser gefülltes Loch, von dem niemand wusste, wie tief es war. Dieses Loch hieß Crater Sink.
Der Klappentext von „Niceville“ spart nicht mit ruhmvollen Vergleichen: mit Stephen King und Cormac McCarthy, mit Twin Peaks und Lost, mit den Coen-Brüdern und Tarantino. Alles Blödsinn. Eine Vermarktungsverzweiflungstat des Verlags. Carsten Stroud entwickelt schnell eine eigene Stimme, die aber leider nicht durchgehend fasziniert. „Niceville“ wird geplagt von dramaturgischen Löchern, mindestens so tief wie der Crater Sink. Aber dann soll dieser Roman ja auch nur der Auftakt einer Trilogie sein. Wer weiß, was sonst noch lauern mag, in dieser schönen, alten Welt?